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Grabrede für Harry Thürk

   QUELLENTEXT
Titel [Grabrede für Harry Thürk]
Autor Ulrich Völkel
Quelle Ulrich Völkel, Weimar
   
Anm. d. Red.: Harry Thürk war, nach langen Jahren der Krankheit, am 24.11.2005 um 3:15 in einem Weimarer Krankenhaus verstorben. Am 29.11.2005 um 10:30 folgte die Beisetzung auf dem Weimarer Hauptfriedhof. Dabei hielt Thürks Freund Ulrich Völkel die folgende Grabrede.
Auf einer separaten Seite finden Sie die Presseechos und Nachrufe auf Thürks Tod.
Liebe Renate, liebe Familienangehörige, liebe Freunde
und Kollegen des Verstorbenen, liebe Trauergemeinde,

wir nehmen Abschied von Harry Thürk und wollen ihn auf seinem letzten Weg begleiten. Viele von uns wurden – und nun muss man sagen: werden auch weiterhin – von seinen Büchern durch ihr ganzes Leben begleitet. Er war dein Mann, liebe Renate, er war Euer Schwager und Onkel. Er war unser Gefährte und Genosse. Sein Leben hat in unserem Leben zahlreiche Spuren hinterlassen, die nicht verlöschen können. Er ist einer von uns gewesen und wir dürfen uns glücklich schätzen, ihm auf die vielfältigste Weise zuzugehören.

Harry, lieber Harry Thürk, wo immer du jetzt bist oder sein könntest, wir sagen deinen Namen und wir sehen dich. Einen wie dich, den kann man nicht vergessen. Denn einer wie du, der hat auch nie einen vergessen. Du bist immer zur Stelle gewesen, wenn Hilfe gebraucht wurde, wenn ein Rat in des Wortes Sinne notwendig war, wenn es um ein herzhaftes Gespräch unter Freunden ging oder auch darum, einen Streit auszufechten. Auf dich konnte man zählen, immer. Jetzt müssen wir mit dem auskommen, was du uns an Klugheit, Aufrichtigkeit, Beharrlichkeit hinterlassen hast. Damit können wir gut leben. Aber von nun an fehlst du.

Und die Menschen dieser Stadt Weimar, in der du den größten Teil deines Lebens zu Hause gewesen bist, werden dich vermissen. Die Wirrungen und Irrungen des Krieges haben dich aus deiner angestammten Heimat vertrieben, aus Oberschlesien. Da war diese Kleinstadt Zülz – sie heißt heute Biała – in der du am 8. März 1927 geboren wurdest. Und diese kleine Stadt ist etwas Besonderes gewesen. Neben Glogau war es nämlich die einzige schlesische Stadt, aus der zum Ende des 16. Jahrhunderts die Juden nicht vertrieben wurden. Kaiser Rudolf II. hat den jüdischen Bürgern ein Schutzprivileg gewährt. In deiner Heimatstadt, Harry, galt der etwas, welcher etwas geleistet hatte, nicht dieser oder jener mit einer bestimmten Religion oder Fasson. Du hast mir einmal erzählt, dass es dich überrascht hat, wenn du später einmal erfahren hast, dass der ein Jude war oder der ein Pole oder der ein Freigeist. Es hat dich nie interessiert, was einer ist, sondern immer nur, wer er ist. Dieser Geist hat dich geprägt. Dein ganzes Leben lang hast du für Gerechtigkeit gekämpft, gestritten, geschrieben und geredet.

Die jungen Burschen in deiner Heimatstadt waren wie andere junge Burschen anderswo auch. Sie trafen sich, trieben ihre Spiele und Scherze und träumten sich manchmal eine Welt zusammen, in der es gerecht und ehrlich zugehen sollte. Unter ihnen war einer: Lothar. Nicht der größte, nicht der stärkste, wenn es nach Körpermaßen ging, aber einer der tapfersten und wortgewandtesten. Sein Vorbild ist Harry Piel gewesen, der Filmheld aus „Menschen, Tiere, Sensationen“. Wo Harry Piel auftauchte, flüchteten die Ungerechten. Wo Harry Piel agierte, flossen keine Tränen mehr. Wo Harry Piel schützend die Hand über einen Gefährdeten hielt, durfte der sich gerettet wissen. So tapfer wie dieser Filmheld wollte Lothar sein, so gerecht, so hilfreich. Im Spiel war das möglich.

Die Wirklichkeit sah anders aus. In Zülz und im ganzen Reich zählten plötzlich „Werte“, die eine Armee von Harry Piels gebraucht hätten, um aus der Welt geschafft zu werden. Lothar und seine Freunde mussten eine Uniform anziehen und gegen ein anderes Volk Krieg führen, weil es ein anderes Volk war. Das ging gegen seine Natur. Das ließ sein Verstand nicht als gerecht zu. Da wird er sich – nun schon erwachsen, mit brutaler Gewalt erwachsen gemacht worden – manchmal in seine kindliche Phantasiewelt gesehnt haben, um wie ein Unsichtbarer durch die Stadt gehen zu können, einer, der dem Ruf des Dschungels folgt, ein Artist hoch oben auf dem Seil, der Tiger von Akbar. Und wusste doch längst, dass es mehr als eines Kinofilmes bedurfte, um die Welt zu retten oder sie wenigstens ein bisschen gerechter zu machen. Er hat den Krieg überlebt. Er hat die Flucht überstanden. Er hat Heimat gefunden hier in dieser Stadt. Und er traf dich, liebe Renate. Fragte man ihn, wen er liebt, sagte er: Meine Frau, Oberschlesien – und eine Menge Leute zwischen Mandschurei und Südsee. In dieser Reihenfolge.

Gerechtigkeit, das war vielleicht eine der wichtigsten Tugenden, die er lebte und die er einforderte. Und wehe dem, der ein Amt oder eine Macht oder einen Namen missbrauchte, um sich Vorteil zu verschaffen. Da konnte er nicht stille sitzen, da meldete er sich zu Wort, da ging er dazwischen. Vielen, sehr vielen hat er geholfen und nie ein Aufhebens davon gemacht. Manch einer weiß es heute noch nicht. Manch einer will es heute nicht mehr wahr haben.

Der kleine Lothar aus Zülz hat auf schmerzhafte Weise erfahren müssen, dass die Welt nicht wie ein Kinofilm geht. Aber die Ideale seiner Kindheit und den Geist seiner freisinnigen Stadt, den er hat er sich bewahrt. Als er begann, seine Vorstellung von Gerechtigkeit in Worte zu fassen, in Sätze, Kapitel und schließlich in ganze Romane, da war aus Lothar einer der erfolgreichsten deutschen Schriftstellert geworden, der sich nicht aus nostalgischen Gründen einen anderen Vornamen gab, sondern aus Überzeugung und Treue gegenüber seinen Idealen. Wir kennen ihn, wir haben oft mit ihm gesprochen, wir haben seine Romane und Reportagen gelesen, wir waren Zuschauer in seinen Filmen. Immer fanden wir einen, mit dem wir uns identifizieren konnten, der war, wie wir gern sein wollten. Und aus dem, der sich von den Idealen eines Kinohelden anstecken ließ ist einer geworden, der für viele, für Millionen Leser und Zuschauer selbst zu einem Vorbild wurde.

Harry Thürk, der die Kunst des Erzählens zur Freude unzähliger Leser leidenschaftlich gern betrieb, hat zuviel von der Welt erfahren, um ein zeitgläubiger Frohgeist zu sein. Er fühlte sich, das hat er unumwunden und immer wieder geäußert, in der Gesellschaft von Rikschakulis meistens wohler als in der von Regierungsräten. Sein Ehrgeiz war nicht, in den Akademien der Welt als ein exorbitanter Romancier gehandelt zu werden. Er verstand sich als Geschichtenerzähler, der auf dem Basar sitzt, zu dem die Leute kommen und gehen, um zuzuhören und etwas heiterer, etwas gescheiter danach ihrem Tagwerk nachzugehen. Er hat sich zu Lebzeiten noch verbeten, dass wir hier seine Vorzüge aufzählen oder ihn loben, wie das bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Mach keinen großen Sermon, hat er zu mir gesagt, als er wusste, dass die Zeit gekommen ist, eine Rede zu halten. Wir wollen den Versuch also gleich unterlassen. Harry Thürk spricht für sich. Lest ihn. Nehmt seine Bücher erneut zur Hand, in denen vielleicht sogar eine persönliche Widmung von ihm steht. Dort findet ihr, was er über das Leben gedacht hat. Und über den Tod, dem er selbst viele Male ins Auge hat sehen müssen. Wie zum Beispiel damals in Vietnam, wo er als Reporter unterwegs gewesen ist, um über den Freiheitskampf eines kleinen tapferen Volkes zu berichten, und wo er jenes Gift einatmete, das die Aggressoren angeblich einsetzen, um Bäume zu entlauben, damit sie den Feind besser bekämpfen könnten; jenes Gift, das seine Gesundheit irreparabel zerstört hat.

Wenn man ihn fragte, wieviele Kriege er gesehen habe, musste er überlegen. Aber er erlebte auch die unwiederbringlichen Augenblicke des Friedens. In dieser Stadt Weimar beispielsweise. Und anderswo. Er hat sich den ewigen Frieden gründlich und schmerzhaft verdient. Lange Reden mied er, wollte sie auch an diesem Tag nicht haben. Nur – denen, die ihn geliebt haben, wollte er mit seinem Gruß heute auch seinen Dank hinterlassen. Dafür, dass sie ihn auf seiner Wanderung begleitet haben. Freiwillig. Ohne Lob dafür zu empfangen. Nur weil sie wohl verstanden, was er ihnen zu sagen versuchte.

Die Tapferste, die Treueste, die Unermüdlichste bist du gewesen, liebe Renate. Es wird für dich am schwersten sein, auf ihn von nun an verzichten zu müssen. In vielen Situationen, in denen du dich so oder so entscheiden musst, wirst du dich fragen, was hätte Herrchen dazu gesagt. Und eine kluge Antwort finden. Er wusste, was du für ihn getan hast, vor allem die letzten Jahre, in denen er sein Grundstück, sein Haus, sein Zimmer, schließlich sein Bett nicht mehr verlassen konnte. Selbst der kurze Weg an seinen Schreibtisch war zu lang geworden. Nun endet sein Weg abrupt. Und wir alle, die gern an seiner Seite waren, haben einen treuen Weggefährten verloren. Wir danken dir, liebe Renate, dass du auf seiner Wanderung an seiner Seite warst. Er hätte die letzten Jahre seines Lebens ohne dich nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen können. Du hast ihm Leben geschenkt. Du hast ihn geliebt. Er wird dir am meisten fehlen. Aber uns fehlt er von nun an auch.

Mach's gut, lieber Harry, auf deiner langen Reise – wie du es immer gut gemacht hast. Adieu, Kamerad, Gefährte, Freund, Genosse, Kollege. Wir werden deine Träume von einer gerechteren Welt nicht vergessen und tun, was du uns mit deinen vielen Geschichten aufgetragen hast: Dafür zu sorgen, dass die Welt ein bisschen besser wird, als sie gerade noch ist. Leb wohl, Harry. Mach's gut. Komm gut an.