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Primärliteratur

   QUELLENTEXT
Titel Gedanken über ein Menschenalter in einer gewissen Generation
Autor Harry Thürk
Publikation Tygodnik Prudnicki, 22.06.2005 (Nr. 25)
Übersetzung a. d. Polnischen, Jan Dolny (Nachbearb. Hanjo Hamann)
Quelle Jan Dolny, Hamburg
   
Textart offener Brief, Zeitungsartikel, Volltext
Anlass, Thema Beitrag in Jan Dolnys 5-teiliger Artikelserie "Begegnung mit der Vergangenheit" [s.u.]
Textstruktur 5 Spalten, 10 Punkt ohne Serifen, Blocksatz mit Vorschub.
In unserer letzten Ausgabe beendeten wir den umfangreichen Bericht Jan Dolnys über den Aufenthalt von Polen – darunter unserer Neustädterinnen Anna Kaminska und Zofia Stankiewicz – bei den Feierlichkeiten, die anlässlich des 60. Jahrestages der Beendigung des II. Weltkriegs in Hamburg stattgefunden haben. In dieser Ausgabe erfolgen nun einige Worte des Dankes und, was uns als besonders wichtig erscheint, ein wunderbarer Brief von Harry Thürk, einem ehemaligen – in Zülz geborenen – Neustädter; nach dem Krieg als Kriegsfotoreporter in Fernost und zugleich Romanschriftsteller – Autor des Romans „Sommer der toten Träume“.
Wir ergänzen diesen Beitrag durch ein Schreiben der Stiftung KARTA, die sich an den „Tygodnik Prudnicki“ mit der Bitte gewandt hat, Personen, die während des des II. Weltkriegs im III. Reich als Häftlinge oder Zwangsarbeiter gearbeitet haben, ausfindig zu machen.

Gedanken über ein Menschenalter

   „Krieg aus! Heim gehts!“ Der Funker des Regiments rief es, sprang aus seinem Kastenwagen und verschwand im Wald. Ein sonniger Frühlingstag jenes Jahres '45, an einer tschechischen Landstraße unweit der Elbe. Auch ich tauchte im böhmischen Wald unter. Der hatte schon Hotzenplotz und Ondraschek unauffindbar gemacht, die Räuberhelden unserer Kindheitstage. Nun nutzte ich sein Halbdunkel für den Heimweg. Bis ich die Altvaterkette hinter mir hatte. Vor mir lag, zum Greifen nahe, Neustadt.
   Ich hatte in meiner Heimatstadt bereits als Schulbube Schwierigkeiten gehabt, weil ich mich weder für die Gesinnung noch für die Praktiken der Nazis vereinnahmen ließ. Diese Haltung brachte mir Freunde. Aber es gab auch selbst bis in die eigene Familie hinein Abstand dazu. Und nun? Nachdem das Gebiet gemäß dem Verdikt der alliierten Sieger nicht mehr zu Deutschland gehörte..?
   Ich hatte nicht die Absicht, meine Staatsbürgerschaft zu wechseln. Aber ich hatte auch keine Lust, unreifen Halbwüchsigen, die sich als bewaffnete Staatsmacht aufspielten, immer dann zur Belustigung zu dienen, wenn es ihnen Spaß machte, wehrlose Deutsche zu prügeln. Also ging ich.
   Dass ich in Weimar blieb, war ein Zufall. Einer von den glücklichen allerdings. Man fand Arbeit. Und man fand Freunde. Gleichgesinnte junge Männer und Mädchen. Gemeinsam war uns, dass wir aus der Chance des Neuanfangs nach der Niederschlagung des Faschismus etwas machen wollten. Arbeiten und lernen. Und einig waren wir uns darin, dass es einen neuen Faschismus nicht geben würde, solange es uns gab. Das sprach sich herum. Es machte uns für Leute interessant, die in den Konzentrationslagern überlebt hatten. In Weimar, das den Fluch von Buchenwald zu tragen hatte, lebten viele von ihnen. Sie wollten uns kennen lernen und wir sie auch.
   So wurden sie für uns bald zu dem, wofür es in der deutschen Sprache den einmaligen und unübersetzbaren Ausdruck „Kumpel“ gibt. Ein Kumpel ist weit mehr als nur ein Freund – er ist ein Stück von einem selbst.
   Ich erinnere mich an Kurt Goldstein (heute noch Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees), an Heinz Lippmann, Heinz Rein und manchen anderen. Sie kamen weder als Ankläger noch als Belehrer – sie fühlten sich unter uns wohl und erzählten manchmal aus ihrem Leben. Für uns waren sie ein großer Gewinn, und ihnen ging es ebenso. Im Gegensatz zu manchen Leuten, die sich heute so gern als „Opfer“ präsentieren und nicht nur Entschädigungen verlangen, sondern auch noch höhere Rente als andere, und warme Pöstchen, die ihre Fähigkeiten weit überfordern, habe ich von Antifaschisten, wie sie damals zu uns stießen, nie gehört, dass sie Vorteile forderten – das ließ schon ihr Anstand nicht zu. Für diese Lebenserfahrung bin ich gerade heute, in einer Zeit, in der sich alles nur noch um möglichst hohe Geldsummen dreht, dankbar.
   Ich konnte meinen Traumberuf erlernen, den des Bildreporters. Und da ich nicht nur die Bilder machte, sondern auch noch die Fähigkeit entwickelte, Reportagetexte zu schreiben, wurde ich bald zu einer beruflichen Besonderheit in der DDR-Gesellschaft, der es chronisch an Devisen mangelte, und die, wenn sie mich ins Ausland schickte, die Spesen für einen zweiten Mann sparte – das „Geheimnis“. Weshalb ich bald mehr und öfter in anderen Ländern arbeitete, als das bei Kollegen der Fall war. Und dann das Schreiben überhaupt – langsam wurde aus dieser lieben Beschäftigung mein zweiter Beruf. Leute vom Fach sagten mir, ich verfüge über das seltene Talent, Dinge lebendig werden zu lassen; man habe den einen Satz noch nicht zu Ende gelesen, da sei man schon neugierig auf den nächsten. So wurde ich zu einem geschichtenschreibenden Reporter – oder umgekehrt... Was mich nie verließ, den Reporter nicht und auch nicht den Geschichtenschreiber, das war der Krieg. Wenn ich über die Jahrzehnte zurückblicke, blieb dieses barbarische Phänomen das beherrschende Sujet für den Autor ebenso wie für den Reporter.
   Ich lernte ihn von allen Seiten kennen, erfuhr die letzten Scheußlichkeiten, aber auch die ehrenwertesten menschlichen Eigenheiten, wie sie sich bekanntlich in den extremsten Situationen am deutlichsten zeigen. Und das alles, obwohl mein Land nun schon sechzig Jahre einen Frieden genießt, von dem andere nur träumen können.
   Asien lernte ich kennen, als ich von dort über den Krieg nach 1945 berichtete. Er endete damit, dass die USA nun eine starke Militärbasis auf dem ostasiatischen Festland besaßen. Weil mich dieser ferne Erdteil Asien faszinierte, weil ich seine Bewohner, ihre Kultur, ihre Sitten einmalig fand, kam ich immer wieder aus dem relativen Frieden, den der Kalte Krieg Deutschland bescherte, in das Asien der Kriege, Revolten und Putsche zurück. So enthielt mein Leben bald die beiden Seiten der historischen Realität jener Zeit: Glücklich war ich über das Los meines Landes, wenngleich geteilt, so doch in Ruhe leben zu können, unglücklich über das Elend in meinem geliebten Fernost.
   Vor allem schmerzte es mich, immer wieder gute Freunde zu verlieren, in Vietnam, Indonesien, in Malaya, in Laos, Kambodscha – zu viele für ein Menschenleben.
   Einmal besuchte ich meine Heimatstadt, die inzwischen auch zur Heimatstadt mehrer Generationen junger Polen geworden war. Schon damals festigte sich meine Hoffnung, dass Deutsche und Polen künftig in Vernunft und gegenseitigem Respekt leben könnten. Die Vergangenheit kennen, in ihrer ganzen Wahrheit, das halte ich für die beste Garantie, die Vergangenheit nie wieder zu Gegenwart werden zu lassen. Ich bin glücklich, dass es immer mehr Polen gibt, die gleicher Meinung sind. Alles wird davon abhängen, dass unsere beiden Völker sich nie wieder von politischen Demagogen gegeneinander hetzen lassen. Wobei die junge Generation in Deutschland fraglos die größere Verantwortung hat: sie muss jeden Funken Faschismus, egal wie er maskiert ist, sofort austreten, resolut und radikal, bevor daraus ein Flämmchen werden kann. Ich habe die feste Hoffnung, dass das gelingt; mein Vertrauen in die heranwachsende Generation in Deutschland ist groß.
   Und so werde ich in diesen Tagen, in denen sechzig Jahre Nachkriegszeit um sind, ganz still meiner Vorstellung nachhängen, dass sich die Enkel meiner Generation Deutscher mit den Enkeln der heutigen Generation Prudniker Polen in unserer Heimatstadt treffen. In Freundschaft, wie junge Leute sie schließen. Fürs Leben.
Harry Thürk