In unserer letzten Ausgabe beendeten wir den
umfangreichen Bericht Jan Dolnys über den Aufenthalt von
Polen darunter unserer Neustädterinnen Anna Kaminska
und Zofia Stankiewicz bei den Feierlichkeiten, die anlässlich
des 60. Jahrestages der Beendigung des II. Weltkriegs in Hamburg
stattgefunden haben. In dieser Ausgabe erfolgen nun einige Worte
des Dankes und, was uns als besonders wichtig erscheint, ein wunderbarer
Brief von Harry Thürk, einem ehemaligen in Zülz
geborenen Neustädter; nach dem Krieg als Kriegsfotoreporter
in Fernost und zugleich Romanschriftsteller Autor des Romans
„Sommer der toten Träume“.
Wir ergänzen diesen Beitrag durch ein Schreiben der Stiftung
KARTA, die sich an den „Tygodnik Prudnicki“ mit der
Bitte gewandt hat, Personen, die während des des II. Weltkriegs
im III. Reich als Häftlinge oder Zwangsarbeiter gearbeitet
haben, ausfindig zu machen.
Gedanken über ein
Menschenalter
„Krieg aus! Heim gehts!“
Der Funker des Regiments rief es, sprang aus seinem Kastenwagen
und verschwand im Wald. Ein sonniger Frühlingstag jenes Jahres
'45, an einer tschechischen Landstraße unweit der Elbe.
Auch ich tauchte im böhmischen Wald unter. Der hatte schon
Hotzenplotz und Ondraschek unauffindbar gemacht, die Räuberhelden
unserer Kindheitstage. Nun nutzte ich sein Halbdunkel für
den Heimweg. Bis ich die Altvaterkette hinter mir hatte. Vor mir
lag, zum Greifen nahe, Neustadt.
Ich hatte in meiner Heimatstadt bereits als
Schulbube Schwierigkeiten gehabt, weil ich mich weder für
die Gesinnung noch für die Praktiken der Nazis vereinnahmen
ließ. Diese Haltung brachte mir Freunde. Aber es gab auch
selbst bis in die eigene Familie hinein Abstand dazu. Und nun?
Nachdem das Gebiet gemäß dem Verdikt der alliierten
Sieger nicht mehr zu Deutschland gehörte..?
Ich hatte nicht die Absicht, meine Staatsbürgerschaft
zu wechseln. Aber ich hatte auch keine Lust, unreifen Halbwüchsigen,
die sich als bewaffnete Staatsmacht aufspielten, immer dann zur
Belustigung zu dienen, wenn es ihnen Spaß machte, wehrlose Deutsche
zu prügeln. Also ging ich.
Dass ich in Weimar blieb, war ein Zufall. Einer
von den glücklichen allerdings. Man fand Arbeit. Und man fand
Freunde. Gleichgesinnte junge Männer und Mädchen. Gemeinsam war
uns, dass wir aus der Chance des Neuanfangs nach der Niederschlagung
des Faschismus etwas machen wollten. Arbeiten und lernen. Und
einig waren wir uns darin, dass es einen neuen Faschismus nicht
geben würde, solange es uns gab. Das sprach sich herum. Es machte
uns für Leute interessant, die in den Konzentrationslagern überlebt
hatten. In Weimar, das den Fluch von Buchenwald zu tragen hatte,
lebten viele von ihnen. Sie wollten uns kennen lernen und wir
sie auch.
So wurden sie für uns bald zu dem, wofür es
in der deutschen Sprache den einmaligen und unübersetzbaren Ausdruck
„Kumpel“ gibt. Ein Kumpel ist weit mehr als nur ein Freund
er ist ein Stück von einem selbst.
Ich erinnere mich an Kurt Goldstein (heute noch
Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees), an Heinz
Lippmann, Heinz Rein und manchen anderen. Sie kamen weder als
Ankläger noch als Belehrer sie fühlten sich unter
uns wohl und erzählten manchmal aus ihrem Leben. Für
uns waren sie ein großer Gewinn, und ihnen ging es ebenso.
Im Gegensatz zu manchen Leuten, die sich heute so gern als „Opfer“
präsentieren und nicht nur Entschädigungen verlangen,
sondern auch noch höhere Rente als andere, und warme Pöstchen,
die ihre Fähigkeiten weit überfordern, habe ich von
Antifaschisten, wie sie damals zu uns stießen, nie gehört,
dass sie Vorteile forderten das ließ schon ihr Anstand
nicht zu. Für diese Lebenserfahrung bin ich gerade heute,
in einer Zeit, in der sich alles nur noch um möglichst hohe
Geldsummen dreht, dankbar.
Ich konnte meinen Traumberuf erlernen, den des
Bildreporters. Und da ich nicht nur die Bilder machte, sondern
auch noch die Fähigkeit entwickelte, Reportagetexte zu schreiben,
wurde ich bald zu einer beruflichen Besonderheit in der DDR-Gesellschaft,
der es chronisch an Devisen mangelte, und die, wenn sie mich ins
Ausland schickte, die Spesen für einen zweiten Mann sparte
das „Geheimnis“. Weshalb ich bald mehr und öfter in anderen
Ländern arbeitete, als das bei Kollegen der Fall war. Und
dann das Schreiben überhaupt langsam wurde aus dieser lieben
Beschäftigung mein zweiter Beruf. Leute vom Fach sagten mir, ich
verfüge über das seltene Talent, Dinge lebendig werden zu lassen;
man habe den einen Satz noch nicht zu Ende gelesen, da sei man
schon neugierig auf den nächsten. So wurde ich zu einem geschichtenschreibenden
Reporter oder umgekehrt... Was mich nie verließ, den Reporter
nicht und auch nicht den Geschichtenschreiber, das war der Krieg.
Wenn ich über die Jahrzehnte zurückblicke, blieb dieses barbarische
Phänomen das beherrschende Sujet für den Autor ebenso wie für
den Reporter.
Ich lernte ihn von allen Seiten kennen, erfuhr
die letzten Scheußlichkeiten, aber auch die ehrenwertesten menschlichen
Eigenheiten, wie sie sich bekanntlich in den extremsten Situationen
am deutlichsten zeigen. Und das alles, obwohl mein Land nun schon
sechzig Jahre einen Frieden genießt, von dem andere nur träumen
können.
Asien lernte ich kennen, als ich von dort über
den Krieg nach 1945 berichtete. Er endete damit, dass die USA
nun eine starke Militärbasis auf dem ostasiatischen Festland besaßen.
Weil mich dieser ferne Erdteil Asien faszinierte, weil ich seine
Bewohner, ihre Kultur, ihre Sitten einmalig fand, kam ich immer
wieder aus dem relativen Frieden, den der Kalte Krieg Deutschland
bescherte, in das Asien der Kriege, Revolten und Putsche zurück.
So enthielt mein Leben bald die beiden Seiten der historischen
Realität jener Zeit: Glücklich war ich über das Los meines Landes,
wenngleich geteilt, so doch in Ruhe leben zu können, unglücklich
über das Elend in meinem geliebten Fernost.
Vor allem schmerzte es mich, immer wieder gute
Freunde zu verlieren, in Vietnam, Indonesien, in Malaya, in Laos,
Kambodscha zu viele für ein Menschenleben.
Einmal besuchte ich meine Heimatstadt, die inzwischen
auch zur Heimatstadt mehrer Generationen junger Polen geworden
war. Schon damals festigte sich meine Hoffnung, dass Deutsche
und Polen künftig in Vernunft und gegenseitigem Respekt leben
könnten. Die Vergangenheit kennen, in ihrer ganzen Wahrheit, das
halte ich für die beste Garantie, die Vergangenheit nie wieder
zu Gegenwart werden zu lassen. Ich bin glücklich, dass es immer
mehr Polen gibt, die gleicher Meinung sind. Alles wird davon abhängen,
dass unsere beiden Völker sich nie wieder von politischen Demagogen
gegeneinander hetzen lassen. Wobei die junge Generation in Deutschland
fraglos die größere Verantwortung hat: sie muss jeden Funken Faschismus,
egal wie er maskiert ist, sofort austreten, resolut und radikal,
bevor daraus ein Flämmchen werden kann. Ich habe die feste Hoffnung,
dass das gelingt; mein Vertrauen in die heranwachsende Generation
in Deutschland ist groß.
Und so werde ich in diesen Tagen, in denen sechzig
Jahre Nachkriegszeit um sind, ganz still meiner Vorstellung nachhängen,
dass sich die Enkel meiner Generation Deutscher mit den Enkeln
der heutigen Generation Prudniker Polen in unserer Heimatstadt
treffen. In Freundschaft, wie junge Leute sie schließen.
Fürs Leben.
Harry Thürk
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