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Rezensionen zum „Langen Marsch“

TitelLanger Sondermarsch
UntertitelHarry Thürks neuster Roman führt wieder nach Ostasien
AutorGerd Bedszent
PublikationJunge Welt, Feuilleton
Datum12.06.1998
TextartRezension, Zeitungsartikel, Volltext
Langer Sondermarsch
Harry Thürks neuster Roman führt wieder nach Ostasien

Der Titel des Buches ist irreführend. Denn ein direkter »Weg zur Macht« ist der »Lange Marsch« der chinesischen Volksbefreiungsarmee eben nicht gewesen. Für die 80000 Kämpfer der 1. Front der Roten Armee, die am 16. Oktober 1934 den Ring der Kuomintangtruppen um die »Räterepublik Djinggangshan« im Süden Chinas durchbrachen, war es in erster Linie eine Frage des Überlebens, der Umzingelung durch einen erbarmungslosen Feind zu entkommen. Und als die 8000 Überlebenden des »Langen Marsches« am 20. Oktober 1935 im Aufstandsgebiet von Jenan im Nordwesten Chinas eintrafen, war noch keineswegs abzusehen, daß 14 Jahre später die Rote Fahne über Peking flattern würde. Ein Machtkampf fand zu Beginn des »Langen Marsches« allerdings statt - zwischen der Komintern-treuen Führung der Kommunistischen Partei Chinas und dem sozialrevolutionären Flügel um Mao Tse-tung, den letzterer für sich entschied. Maos Strategie der Schaffung revolutionärer Bauernarmeen erwies sich in den Folgejahren unter den spezifischen Bedingungen des von Krieg und Bürgerkrieg geschüttelten Reiches der Mitte als erfolgreich. Mit Rückendeckung durch die Sowjetunion konnten die kommunistisch geführten Bauernheere nicht nur den japanischen Interventen widerstehen, sondern auch mit »weißen« Kuomintangtruppen und sonstigen Warlords kurzen Prozeß machen. Der »Lange Marsch« war es, der die Voraussetzungen für den späteren militärischen Sieg der chinesischen Kommunisten schuf - aber auch das Zerwürfnis zwischen der KP Chinas und der KPdSU bestimmte. Die Moskauer »Zentrale der Weltrevolution« duldete keine abweichenden ideologischen Strömungen neben der von ihr als einzig richtig deklarierten.
Harry Thürk war in der DDR als Autor von Abenteuerromanen und militär-historischen Dokumentationen bekannt. In den meisten seiner Werke schildert er die Entwicklung der Länder Ostasiens vom Beginn der japanischen Aggression im Zweiten Weltkrieg bis zum Abklingen der revolutionären Nachkriegskrise. Bücher wie »Der Tod und der Regen« und »Straße zur Hölle« trugen nicht unwesentlich zur Popularität der DDR- Solidaritätsbewegung mit den gegen die USA-Aggression kämpfenden Völkern Indochinas bei. Seit 1989 schreibt Thürk hauptsächlich Krimis. Nach »Hölle Burma« und »Iwo Jima« ist »Der lange Marsch« sein drittes nicht mehr in der DDR erschienenes Buch, das an seine Ostasien-Reihe anknüpft.
Wie bei den meisten Büchern Thürks sind auch in »Der lange Marsch« die historischen Fakten in eine Handlungsebene fiktiver Personen eingewoben. Das Buch stellt also eine Mischung aus Dokumentation und Erzählung dar. Im Gegensatz zu der Mehrzahl von stapelweise in Bahnhofsbuchläden herumliegenden »Thrillern« bemüht sich Thürk jedoch um historische Korrektheit der von ihm dokumentierten Fakten - was jedoch gelegentliche Fehler und Ungenauigkeiten natürlich nicht ausschließt. In Thürks Buch werden die historischen Ereignisse im Zusammenhang mit dem »Langen Marsche« nur unvollständig wiedergegeben - der Autor beschränkt sich auf die wichtigsten militärischen Aktionen der »l. Front« der Roten Armee um Mao Tse-tung-, die Operationen weiterer roter Truppen werden nur am Rande erwähnt. Die Bürgerkriegswirren in China im Vorfeld des »Langen Marsches« werden nur in Ansätzen beschrieben und weitgehend auf die Gegnerschaft der Kuomintang-Führung zur Kommunistischen Partei und den aufständischen »roten« Truppen reduziert.
Bei der Schilderung der Auseinandersetzungen an der Spitze der KP Chinas und der revolutionären Truppen nimmt Thürk eindeutig für die Anhänger Mao Tse-tungs Partei - ungeachtet seiner scharfen Distanzierung vom Maoismus in mehreren früheren Büchern.
Insgesamt kommt »Der lange Marsch« in seiner literarischen Qualität nicht an frühere Werke Thürks, wie »Das Tal der sieben Monde« und »Die weißen Feuer von Hongkong«, heran - schließt in seinem Gesamtwerk jedoch eine historische Lücke: Für K-Gruppen-erfahrene Westlinke ist Maos »Langer Marsch« zwar schon Schnee von vorgestern, jedoch in der DDR galt seit den 60er Jahren allein die Erwähnung des chinesischen »Sonderweges« als politisch suspekt, die Geschichte seiner Entstehung wurde weitgehend totgeschwiegen.
Mit dem Verschwinden der Sowjetunion und dem rigiden Anpassungskurs der gegenwärtigen Staats- und Parteiführung Chinas an die westlichen Siegermächte wäre es an der Zeit für eine historische Aufarbeitung der Anfänge des ostasiatischen Sozialismusversuches. Thürks Buch macht dabei einen - kleinen - Anfang.