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Zitate aus „Auch überm Jangtse ist Himmel“

"Auch überm Jangtse ist Himmel" - 8. Kapitel: "Guerilla-Geburtstag", S. 193-212.
ZITAT

GUERILLA-GEBURTSTAG




In Korea hatte ich Andy C. nicht mehr kennengelernt, den Soldaten einer britischen Kommandoeinheit. Ich traf ihn eines Tages in Peking, als wir bei Alan Winnington, dem englischen Korrespondenten, einen Eimer Krabben mit Tsingtauer Bier zusammen vertilgten. Mit von der Partie war noch Lim Hua, der malaiische Rechtsanwalt, der sich gerade wieder in China aufhielt. Abendlicher Imbiß von Junggesellen. (Alans Frau war auf Reisen, und Lim war ebenfalls solo.) Dazu war Andy gekommen. Ein großer, blonder Schotte. Der Typ, der jungen Damen den Blutdruck ansteigen läßt. Alan hatte ihn gegen Ende des Krieges in einem nordkoreanischen Gefangenenlager getroffen und in ihm den Landsmann erkannt. Trinkfest und gesellig, so pflegte er ihn zu charakterisieren. Ein wenig der trotzige Typ, fand ich, als ich später mit ihm bekannt wurde. Nach längerer Zeit als Soldat in der sogenannten ›Polizeiaktion‹ hatte er herausgefunden, daß er in dem Krieg sozusagen nur als ›Verschleißmaterial‹ gebraucht wurde. Er hob im geeigneten Augenblick die Hände und sagte: »Finish!«
   Kam in ein Gefangenenlager und war fortan außer Gefahr. Allerdings hatte sein Verhalten Konsequenzen. Ein britisches Gesetz stellte Überläufer unter Strafe. Also kehrte Andy, da er keine Lust auf eine Zelle hatte, nach dem Waffenstillstand vorläufig nicht heim, sondern blieb unter der Obhut des Roten Kreuzes, das sich mehrerer solcher Fälle annahm, in einem bescheidenen Quartier mit ausreichender Verpflegung in Peking. Das war keine Gefangenschaft mehr. Sein Auskommen verdiente sich der gelernte Kellner durch Dolmetschen und Textübersetzen - er hatte es in der Aneignung der chinesischen Sprache recht weit gebracht, und überraschenderweise schrieb er ein einwandfreies Englisch.
   Andy war oft zu Gast bei Alan, dem alten Fernost-Hasen. Ähnlich wie Lim Hua und ich. Lim kannte Alan noch aus seiner Studienzeit in England. Heute betrieb der pfiffige Malaie eine Kanzlei in Penang, das eine hohe Zahl chinesischer Einwohner hatte.
   In seinen Geschäften als Anwalt hielt er sich deshalb öfters für längere Zeit im Ausland auf, besonders in China, wo er die besten Verbindungen hatte. Seine Schwester, eine Ärztin, arbeitete in der Mandschurei. Für uns war er ein stets hilfsbereiter, angenehmer und verläßlicher Freund, und wann immer wir die Chance hatten, verbrachten wir Zeit miteinander.

Andy hatte, wie meist, seine Gitarre dabei, und während wir die Krabben knackten, sang er. Sein voller Bariton hätte gut und gern für eine Sängerkarriere ausgereicht, aber er hatte zu Hause nicht die Chance für eine Ausbildung gehabt. Wenn er »Green, green grass of home ...« sang, wie er das manchmal auf unseren Wunsch tat, oder wenn er vom Heimweh gepackt wurde, erstarben die Gespräche. Ich selbst zähle mich keineswegs zu den besonders sentimentalen Menschen, aber auch ich spürte bei solchen Gelegenheiten, wie mir eine gewisse Kühle über den Rücken kroch.
   Heute wollte Andy nicht mehr allzu lange bleiben. Er kramte aus seiner Kiste mit den Shanties noch »We are leaving Chartoom by the Light of the moon ...« hervor, und ein paar Limericks von der Sorte, die man in Damengesellschaft wohl kaum darbieten kann. Mit dem letzten Schrei: »There was a girl called Esther, she cried when the bishop undressed her ...« (ich will es dabei bewenden lassen) verabschiedete sich der Schotte.
   Das hatte einen inzwischen nicht mehr so besonderen Grund, den ich des Verständnisses halber zitieren muß, bevor ich erzähle, was dabei herauskam ...

Beim Roten Kreuz hatte Andy, der sich frei in der Stadt bewegen konnte, seine Schlafstelle. Lediglich wenn er ins Land reiste, brauchte er eine Erlaubnis. Aber es gab eine ganz andere Schwierigkeit, die ihn drückte, als wir uns kennenlernten. Seit einiger Zeit hatte er sich in ein Mädchen verliebt. Chinesin. Sie war Kellnerin in der Kantine des Fernsehsenders, und Andy hatte sie dort unwiderstehlich gefunden, als er einen englischen Film übersetzte. Nun stellte sich aber diese alltäglichste Sache der Welt unter den gegebenen Umständen als ein äußerst schwer zu lösendes Problem heraus.
   Chinas Bevölkerung hatte eine wechselvolle, unfreie Vergangenheit, in der Ausländer, vor allem Europäer, neben den Japanern die übelste Rolle gespielt hatten. Daraus war eine ziemlich schwer abzulegende Voreingenommenheit gegen Ausländer im allgemeinen gewachsen. Immer noch sah man in einer Chinesin, die sich mit einem Ausländer einließ, sehr oft ein Flittchen. Und die gegenwärtige Regierung war zwar bemüht, dieses kleinkarierte Vorurteil abzubauen, richtete dafür aber ein anderes, ganz ähnlich geartetes unbewußt auf, indem sie die Meinung stützte, die meisten Ausländer, die heute China bereisten, wären potentielle Spione und wollten dem Land nichts Gutes.
   Unter solchen Umständen hatte es eine Liebe nicht gerade leicht. Ich verstand das besser als mancher andere, weil ich aus meiner frühen Jugend noch die ethnischen Zänkereien unter der Grenzbevölkerung bei uns daheim kannte, und weil ich erlebt hatte, wohin Vorurteile solcher Art führen können. Deshalb hatte ich Andy bei erster Gelegenheit angeboten, er könne sich an Wochenenden, wenn ich nicht in meiner Wohnung war, weil ich Reisen unternahm oder mich bei Freunden aufhielt, mit seiner Freundin in meinen vier Wänden aufhalten.
   Meine Wohnung lag in einem Haus, das für ausländische Mitarbeiter auf dem Betriebsgelände des Fremdsprachenverlages stand. Wenn Andy mit seiner Freundin bei mir logieren wollte, kamen die beiden bis Mittag ganz einfach zu Besuch, und ich ging wenig später. Am Montag lief das dann umgekehrt. Ich fand daran nichts Anstößiges, wußte allerdings, daß es besser war, nicht darüber zu sprechen. Und einige Freunde, die davon wußten, verhielten sich ebenso.
   »In der Küche steht ein Thermosbehälter mit Eistee«, rief ich Andy zu, »macht ihn alle!« Der Rest war abgemacht. Ich warf ihm den Schlüssel zu, und dann waren wir drei allein mit dem Rest Krabben. Ohne Musik. Am Morgen wollten wir in die Westberge, die schöne Randgegend im Nordwesten der Stadt, über den Sommerpalast hinaus, bis zum Wo Fo Se, dem ›Tempel des schlafenden Buddha‹, wo es ein bezauberndes kleines Restaurant gab, in dem wir uns für den Abend bereits angemeldet hatten ...
   Aus den Plänen wurde nichts.
   Etwa eine Stunde nachdem Andy aufgebrochen war, klingelte Alans Telefon. Unser sonst recht gelassener Freund runzelte die Stirn, hörte sich schweigend an, was da gesagt wurde, und zuletzt beschied er den Anrufer: »Wir lassen uns etwas einfallen! Er soll sich nicht außerhalb von Harrys Wohnung zeigen ...«
   Ich horchte auf. Alan, nachdem er aufgelegt hatte, griff nach der letzten Krabbe, knackte den Panzer, aß eine Weile, dann sah er mich an und sagte in seiner schnörkellosen, unbeteiligt klingenden Art: »Saburan, der Indonesier, der über dir wohnt. Andy ist in der Klemme. Der Posten am Tor hat offenbar den Betriebswächtern geflüstert, daß er eine Chinesin in deine Burg geschleust hat ...«
   Ich hatte das erst einmal zu verdauen. Dann fragte ich: »Warum ist dieser Idiot nicht mit ihr durch den Verlag gegangen? Um diese Zeit ist der Eingang offen, kein Posten, und durch die Kantine können sie raus, über den Hof, und sind ungesehen aus dem Haus!«
   Ich bekam keine Antwort. Lim leckte sich schließlich die Finger ab und riet mir in seiner etwas pomadigen Art: »Wäre eine gute Idee, wenn du Andy das fragst!«
   Ich griff zum Telefon und rief ihn an. Andy war noch ahnungslos. Auf mein Anraten warf er einen Blick in den Hof, und als er nach dem ersten Schreck wieder Luft bekam, flüsterte er in die Leitung: »Tatsächlich ... sie stehen da zu zweit ... da unten ... und da hinten ist noch einer ...«
   Als ich das für meine beiden Freunde wiederholte, nahm Lim mir den Hörer aus der Hand und wies Andy souverän an: »Ruhig verhalten. Wenn einer klopft, nicht öffnen. Wir werden das organisieren.«
   Dann aß er den Rest seiner letzten Krabbe auf, goß einen Viertelliter Bier nach, und darauf erkundigte er sich: »Die beiden sind sozusagen im selben Fach ... beide Kellner, oder?«
   Alan brummte: »Willst du den Betriebspolizisten erzählen, sie machen bei Harry eine Kneipe auf?«
   »Das nicht. Aber sie könnten beispielsweise eine Party vorbereiten. Das würde sich sogar glaubhaft anhören!«
   Lim grinste mich entwaffnend an. Und er brachte mich auf eine Idee. Ich sagte, ohne zu überlegen: »Klar, ich habe Geburtstag, und die beiden arrangieren als Fachleute das Fest!«
   Alan hatte eine Weile schweigend zugehört. Jetzt meldete er sich: »Du kannst es nicht sein, sie haben deine Daten in der Personalabteilung. Aber die Idee ist andersrum brauchbar ...«
   Wir wußten natürlich alle drei, daß es nicht Andy sein würde, der die Schwierigkeiten bekam. Er war immerhin Ausländer, und die chinesischen Ordnungsbewahrer würden sich mit ihm kein empörendes Beispiel leisten können. Nein, das Mädchen, seine Freundin, sie war Chinesin, und sie würde den Ärger haben. Höchstwahrscheinlich versetzte man sie in eine weit entfernte Provinz, zur ›Arbeit an den Graswurzeln‹, wie das genannt wurde.
   »Heilungkiang«, stimmte Lim mir zu, als ich ihn darauf aufmerksam machte. Er wandte sich an Alan: »Wollen wir ein paar Reserven mobilisieren?«
   Alan Winnington war ein praktisch denkender Mann. Er pflegte nicht lange um eine Sache herumzureden, wenn das Wesentliche gesagt war. Jetzt hörte er sich an, was Lim nach seiner Frage noch vorschlug, und dann griff er einfach zum Telefon und wählte die Nummer des Peking Hotels.
   Dort wohnt Rew Alley, offiziell der Generalsekretär des Pazifischen Friedenskomitees, seit Jahrzehnten als Ingenieur in China ansässig, aus Liebe zu Land und Leuten. Eine Respektsperson, hoch geehrt und gern gesehen. Privat ein allein lebender älterer Herr, der verläßliche Freunde schätzte, und der immer für eine überraschende Idee gut war.
   Er hatte auch diesmal eine, nachdem er gehört hatte, was geschehen war und wie wir uns Abhilfe vorstellten. Erst schimpfte er sich eine Weile seinen Zorn über Andys Unbesonnenheit von der Seele, dann entschied er kurz und bündig: »Klar, wir müssen den Jungen da raushauen. Kommt rüber zu mir. Bis ihr da seid, habe ich etwas arrangiert ...«
   Wenn sich einer in der Psyche der Chinesen auskannte, dann war es Rewi. Als Neuseeländer hatte er die Geschichte Chinas in den letzten Jahrzehnten intensiv miterlebt. Er hatte zwar kein Verständnis für ihre Phobie, sie würden immer noch von allen Ausländern als minderwertig betrachtet, außerdem kämen die meisten westlichen Besucher nur nach China, um Errungenschaften der neuen Ordnung auszuspionieren - Rewi konnte über solche Vorstellungen herzerfrischend und mit den ausgewähltesten Vokabeln fluchen, aber er wußte sie nüchtern einzukalkulieren. Auszumanövrieren, wenn es nötig wurde. Denn er unterschätzte ihre Langlebigkeit auch in einer inzwischen völlig veränderten, sich nach und nach öffnenden Gesellschaft nicht.
   Zuerst, als wir in seinem Apartment ankamen, wo der stämmige, etwas bullig wirkende Mann trotz der auch am Abend noch anhaltenden Hitze in einem dicken Frotteemantel saß, räsonnierte er noch eine Weile darüber, daß Andy ja nun wahrlich lange genug in China lebte, um zu wissen, daß es genügend Leute gab, die ein vertrautes Beisammensein einer Chinesin mit einem Engländer immer noch für eine nationale Schande hielten. Doch dann wurde er mit einem Schlag sehr sachlich.
   »Dort drüben am Telefon liegt die Liste. Rot abgehakt die Leute, die ich bereits engagiert habe. Ruft den Rest an. Alle sollen in genau einer halben Stunde vor ihren Quartieren stehen. Wir holen sie ab. Blumen mitnehmen, wenn sie welche kriegen können. Meinetwegen auch was zu trinken. Es gibt eine förmliche Geburtstagsfeier für Chen Ping ...«
   Er grinste Lim Hua an: »Gute Idee, was? Übrigens bist du die Hauptperson! Du hältst die Festrede!«
   Lim brauchte eine Weile, um das richtig zu begreifen. Aber am Schluß grinste er fröhlich und versprach, er werde demnächst eine Runde ausgeben, weil ihm dieser Dreh nicht selbst eingefallen sei.
   Chin Peng war um diese Zeit in den pazifischen Anrainerstaaten eine legendäre Persönlichkeit. Als Malaie chinesischer Herkunft führte er den äußersten linken, bewaffneten Flügel der nationalen Befreiungsbewegung in der britischen Kolonie Malaya an. Das wußte ich von Lim Hua, der, wie er mir hinter vorgehaltener Hand verriet, gelegentlich bei seinen Reisen diese oder jene Partie illegal angebotener Maschinengewehre für den ehemaligen Schulkameraden Chen Ping und seine Truppe aufkaufte und den Transport organisierte.
   Nach und nach begriff ich den Plan Rewis. Er würde nicht nur verhindern, daß Andy und seine Freundin Ärger bekamen - er bot auch für die Nachschnüffler die nicht zu unterschätzende Chance, ihr Gesicht zu wahren, indem sie sich einfach den Gratulanten anschlössen. Eine für Asiaten nicht unwichtige Sache, dieses ›Gesicht‹. Und Rewi hatte sich zusätzlich noch etwas Besonderes einfallen lassen.
   Meine Aufgabe, so bleute er mir ein, als Alan mit seinen Telefonaten ziemlich am Ende war, bestand darin, daß ich aus dem Haus, in dem ich wohnte, einen wohlbeleumdeten Mann zu den staatlichen Beobachtern schicken mußte, gewissermaßen als unverdächtigen Einflüsterer, weshalb das auch betont zufällig auszusehen hatte. Er sollte ihnen im geeigneten Augenblick betont vertraulich eröffnen, was da angeblich lief. Mir fiel sofort Saburan ein, der Indonesier, der uns angerufen hatte. Er sollte die delikate Aufgabe übernehmen, den ›Beobachtern‹ ihre Chance, ohne Gesichtsverlust aus der Sache herauszukommen, so nahezulegen, daß sie die Absicht keinesfalls merkten.
   »Sie dürfen nicht im entferntesten auch nur riechen, daß da was faul ist!« beschwor mich Rewi. »Das ist so delikat wie mit einer Jungfer zu schlafen, ohne sie zu deflorieren, verstehst du?«
   Wie das mit der Jungfer funktionieren sollte, war mir unklar. Aber ich gab mir Mühe, Saburan am Telefon klarzumachen, was er zu tun hatte. Ich war mit dem Indonesier befreundet, der über mir wohnte, mit Frau und kleinem Kind.
   »Ida hat schon überlegt, ob wir ihnen nicht vielleicht eine Erfrischung anbieten sollten ...«
   »Herrliche Idee!«
   »Soweit ich sehen kann, sind es drei. Einer ist von der Wache am Tor zum Verlagsgelände.«
   »Leg ein paar Kekse auf das Tablett«, schlug ich ihm vor. Das versprach er. Ein verläßlicher Verbündeter.
   Rewi, der sein Apartment für eine Weile verlassen hatte, erschien wieder, rubbelte sein graues Stoppelhaar, grinste und eröffnete uns: »Wir kriegen den Kleinbus vom Hotel. Abfahrt in zehn Minuten!«
   Das steigerte unseren Eifer. Ich wählte noch einmal meine eigene Nummer, und als sich Andy beklommen meldete, trug ich ihm auf: »Nehmt euch aus meinem Schrank ein paar weiße Handtücher. Jeder klemmt eins unter den Arm. Wie Kellner das so haben. In genau dieser Aufmachung empfangt Ihr uns. Tiefe Verbeugung und soviel Höflichkeit, daß sich das Waldorf-Astoria um euch reißen würde! Alles was es an Gläsern und Tellern in meiner Behausung gibt, auf den Tisch. Genial arrangiert, bitte! Wie Staatsbankett. Kerze anzünden. Jeder Gast kriegt an der Tür bereits einen Mao Tai. Und - lächeln, denn wir feiern den Geburtstag eines berühmten Mannes ...«
   Andy war nicht so ganz überzeugt, daß die Sache klappen würde. Aber ich munterte ihn auf und schärfte ihm ein, daß er und seine Freundin Sicherheit ausstrahlen müßten. Unbefangenheit bei allem was sie taten. Davon würde jeder ›Beobachter‹ so beeindruckt sein, daß sich die Gedanken, die er vorher gehabt hatte, von selbst entwerteten. Er versprach mir, sie würden sich daran halten.
   Als wir schließlich aufbrachen, war ich sicher, was wir machten, würde nicht nur auf eine Hilfe für Andy und seine Freundin hinauslaufen. Es würde auch ein Mordsspaß werden.
   Peking genoß den Sommerabend. Straßenlaternen waren dünn gesät. Dafür erleuchteten tausend Schaufenster die Gehsteige, auf denen es von Menschen wimmelte. Die gegen Abend absinkenden Temperaturen lockten die Leute aus ihren meist nicht sehr komfortablen, unklimatisierten Wohnungen heraus ins Freie. Die Läden schlössen hier erst, wenn es auf Mitternacht zuging. Und für die unzähligen Straßenhändler gab es überhaupt keine Öffnungszeiten. So wälzte sich um diese Zeit ein ununterbrochener Strom von Flaneuren aller Altersgruppen durch die Straßen des Zentrums. Man sah, begutachtete, nörgelte, wählte aus, kaufte. Immer waren Kinder dabei, egal ob in den Tuchläden oder da wo es Zuckerkringel, Kaugummi und Kokosnüsse gab. Über dem Zentrum sammelte sich indessen das was manche Einwohner Smog nannten, nach der englischen Bezeichnung, die meisten aber ›eine wohlriechende Wolke‹, gespeist aus dem Qualm der tausend Grillfeuer, auf denen Fleischstücke oder Maiskolben brutzelten. Autos tauchten spärlich auf, sie gehörten ohnehin meist den staatlichen Einrichtungen, die jetzt bereits geschlossen waren, und sie befuhren auch lieber die breiten Prachtstraßen.
   Wie etwa den Changan-Boulevard, wo der Kaiserpalast märchenhaft angeleuchtet war, einschließlich des knallbunten Riesenporträts von Mao Tse-tung. Mit Kinnwarze!
   Dafür wimmelte es von Radfahrern und Rikschas. Überall schlängelten sie sich zwischen den Gruppen der Fußgänger hindurch, vollführten mit ihrem Geklingel einen Höllenlärm, und im Verein mit dem Gesumm der vielen tausend Stimmen, dem Geplärr der von den Müttern auf der Hüfte getragenen Säuglinge, dem Gezwitscher der zwischen den Erwachsenen herumwuselnden Kinder und dem Gerufe der Händler und Wasserverkäufer schufen sie die unverwechselbare Lärmkulisse der Hauptstadt des Riesenlandes. Wie vertraut uns Fremden schon nach kurzer Zeit des Aufenthaltes hier dies alles doch war!
   Zuerst hielten wir in der Nähe der Einmündung der Wang Fu Tsching in den Changan. Hier stand unser erster Partyteilnehmer, ein indischer Journalist, der am Ende der Hauptgeschäftsstraße wohnte. Vorn, neben dem Fahrer des Busses saß Rewi und achtete auf die Route. Wer zustieg, mußte an Lim und Alan vorbei, die nahe der Tür saßen. Sie teilten jedem Neuankömmling alles mit, was er noch wissen mußte.
   Über eine Kreuzung nach der anderen kämpfte sich das kleine, schokoladenbraune Fahrzeug vorwärts. Im Hotel nannte man es wegen seiner Farbe liebevoll ›Choco-Lady‹. Nachdem wir etwa ein Dutzendmal angehalten hatten, war die Hälfte derer, die Andy helfen wollten, an Bord, und es kam Stimmung auf, wie bei einer vergnügten Party. Lim und Rewi plauderten Einzelheiten über das aus, was wir tun würden, im Rahmen dieser ›Rettungsaktion‹. Als wir die Innenstadt abgegrast hatten, war der Bus bereits voll besetzt: Journalisten aus vielen Ländern, Spezialisten, die für ihre Firmen in China tätig waren, Frauen von Beratern, die auf den Ölfeldern im Nordwesten arbeiteten - keiner von denen, die Rewi oder Alan am Telefon um Mithilfe baten, hatte abgelehnt. Jetzt freuten sie sich auf das was da kommen würde, während die ›Choco-Lady‹ schon den Hsi Tan entlang rollte, eine der belebtesten Straßen im Westen der Stadt.
   Lim kam neben mich, und wir verabredeten ein letztes Mal, wie wir vorgehen würden. Als wir dann durch das Fu Tscheng Men rollten, das ›östliche Tor‹, hinter dem die Stadt lichter wurde, dünner bebaut, teils mit neuen Wohnsiedlungen, die nicht selten an ähnliche Bauten zu Hause erinnerten, gäbe es so gut wie nichts mehr zu besprechen. Von jetzt ab würde sich erweisen, ob unsere Improvisation zu dem gewünschten Ergebnis führte und Andy mit seiner Freundin zu einem guten Abgang verhelfen konnte. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, daß Rewi, der alte Praktiker, die Zeit, die wir für das ›Einsammeln‹ brauchten, richtig kalkuliert hatte.
   Wir bogen in die Bai Wan Dschuang Lu ein. Die Gegend war hier im Vergleich zur Innenstadt recht locker besiedelt. Auf einer der riesigen kahlen Flächen lag das Areal des Verlages. Wir waren da!
   Der Pförtner am großen Tor öffnete sogleich beide Flügel, weil er die ›Choco-Lady‹ als Fahrzeug von Gästen des Peking-Hotels kannte und wohl annahm, es handle sich um eine offizielle Fahrt. Wieder einmal bewies sich, daß das Auftreten einer vielköpfigen Schar von Ausländern in diesem Lande so gut wie alle Schranken beseitigte.
   Noch bevor der Bus den weiten Hof durchquert hatte und vor den Wohnhäusern hielt, mahnte Rewi ein letztes Mal verschmitzt: »So, Leute, jetzt sind wir eine feierlich gestimmte Gemeinschaft! Ob wir Chen Ping lieben oder nicht, wir gehen in Harrys Wohnung, um ihn zu feiern. Und Andy und Lu sind dabei die dienstbaren Geister!«
   Wir entdeckten den einen ›Beobachter‹ sofort. Zumal Saburan, der Indonesier, neben ihm stand, die unvermeidliche, nach Nelken duftende ›Kretek‹ paffend. Er lief auf uns zu und vollführte eine Begrüßungszeremonie, von der mancher Schauspieler noch was hätte lernen können. Der ›Beobachter‹ starrte ihm verdattert nach. Für ihn war das Schauspiel, das wir boten, wie wir alle aus dem Bus kletterten, einige mit Blumensträußen, andere mit Päckchen, in denen sich Kekse, Getränke oder Zuckerwerk befanden, der Beweis dafür, daß sich hier ein offizieller Akt abspielte. Es dämmerte ihm wohl, daß an seinen Überlegungen, die die Besucher in meiner Wohnung betrafen, etwas fundamental falsch gewesen sein mußte. So viele Ausländer würden sich nicht bei einem Mann versammeln, in dessen Behausung gerade ein Asylant mit einer Einheimischen verbotene Liebe betrieb ...
   Um die Szene noch wirkungsvoller ausfallen zu lassen, hatte Saburan einen besonderen Effekt ausgeheckt. Er hatte alle in der Nachbarschaft lebenden Ausländer, die ebenfalls Mitarbeiter des Verlages waren, benachrichtigt, es finde eine Feier in meiner Wohnung statt, zum Geburtstag eines international bekannten Guerillas. Das zeitigte nun den Erfolg, daß unserer ›Busgemeinde‹ aus dem Hauseingang etwa zwei Dutzend freudig gestimmte Leute entgegenströmten, uns lärmend beg[r]üßten und sich mit uns in einer dichten Menschentraube aufwärts wälzten.
   Unten blieben die ›Beobachter‹ zurück. Ich vermutete, nicht zu Unrecht, wie sich bald herausstellen sollte, daß sie den Eindruck bekommen hatten, hier liefe eine Sache von erheblicher Bedeutung ab, hinter der sich die Anfangsvermutung, man könne eine Chinesin beim verfemten Fehltritt mit einem Ausländer erwischen, glatt in ein Nichts auflöste: Andys Tête-à-Tête wurde von uns buchstäblich in eine Staatsaffäre verwandelt.
   Als die ersten von uns auf meiner Etage anlangten, ging meine Tür auf, und wie zwei Empfangschefs standen da plötzlich Andy und seine Lu, sich leicht verbeugend, die Handtücher unter den linken Arm geklemmt, zur Begrüßung der Gäste bereit.
   Lim trat neben sie. Jeder Zoll an ihm war plötzlich distinguiert, als stünde er vor einem königlichen Palast und empfange die Geburtstagsgratulanten des Thronfolgers. Eine erhabene Zeremonie! Nur manchmal etwas aus den Fugen geratend, wenn ein alter Bekannter auf den Malaien zutrat, ihm freundlich auf die Schulter klopfte und sich jovial erkundigte: »Hi, Lim, alter Mädchenhändler, wie stehen die Dinge?«
   Ich ließ meine ›Gäste‹ vorangehen. Trat beiseite. Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich eine Weile beobachten, daß unten, am Treppenabsatz, einer der ›Beobachter‹ erschien. Der Anblick von Andy und Lu, die da mit Lim Hua gemeinsam die Honneurs machten, mit der Grandezza spanischer Diplomaten, brachte ihn sichtlich durcheinander. Er besah sich das Treiben eine Weile, den Mund fassungslos geöffnet, dann verschwand er.
   Neben mir erschien Saburan. Er grinste vergnügt und meinte: »Gute Show! Das war die Enttäuschung seines Lebens!«

In meiner Wohnung hatte jeder der Gäste nicht viel mehr Platz als einen Quadratmeter. Trotzdem herrschte eine muntere Stimmung. Andy und seine Freundin hatten aus meiner Küche buchstäblich jedes Gefäß, aus dem man trinken konnte, angeschleppt und mit Mao Tai gefüllt an die Besucher verteilt. Allein schon aus diesem Grunde wurde die Stimmung von Minute zu Minute fröhlicher. Ich winkte Lim, er solle sich etwas einfallen lassen, bevor der Alkohol Auflösungserscheinungen zeitigte. Der Malaie mußte wohl ähnliche Sorgen haben, denn er klimperte mit seinem Taschenmesser so lange an einem gläsernen Lampenschirm herum, bis man aufmerksam wurde und die Gespräche erstarben. Da begann Lim zu reden. Über den angeblichen Zweck des Zusammenkommens, den Geburtstag Chen Pings, und über den tatsächlichen, was ein allgemeines Schmunzeln hervorrief. Aber Lim beschäftigte sich gleich wieder mit seiner Heimat: »Egal, ob Chen Ping nun heute Geburtstag hat oder nicht - er gäbe uns das Datum, wenn er Lu und Andy kennen würde, sofort frei. Er schätzt einen derben Spaß ebenso wie Hilfe für den Freund. Das weiß ich, weil ich mit ihm zur Schule ging ...«
   Er sagte einiges über die Perspektive Malayas nach dem unvermeidlich gewordenen und bereits angekündigten Abzug der Engländer aus dieser Kolonie. Lim war ein begabter Redner, stellte ich wieder einmal fest, denn niemand schien sich zu langweilen, während er erzählte. Und er erzielte einen Lacher nach dem anderen. Etwa als er erklärte:
   »Wenn Chen Ping die Feier sehen könnte, die hier stattfindet, um selbsternannte Tugendwächter von der Liebe einer Chinesin, einer bildhübschen, zu einem Engländer abzulenken - er würde nicht glauben wollen, was seine Augen wahrnehmen ...!«
   Und dann erzählte er von dem Guerilla. Er brachte es fertig, die meisten Gäste so mit Gedanken über Chen Ping zu beschäftigen, daß sie zeitweise ein wenig vergaßen, weswegen sie der Bitte Rewis hierher eigentlich gefolgt waren. Ich selbst hörte über den Mann, mit dem Lim seit der Kindheit befreundet war, und der jetzt mit einer Armee von Freischärlern in den Wäldern Nord-Malayas gegen die britischen Kolonialtruppen kämpfte, zum ersten Mal Näheres. Etwa daß er bereits während der japanischen Besatzung im zweiten Weltkrieg gegen die Soldaten des Tenno gekämpft hatte, mithin für britische Interessen, und mit versprengten britischen Soldaten zusammen. Wie er etwa den englischen Colonel Chapman zusammen mit einer Anzahl anderer Offiziere aus einem Gefangenenlager der Japaner befreit hatte. Und wie dann diese Offiziere zusammen mit ihren malaiischen ›Kolonialuntertanen‹ japanische Stützpunkte überfielen, Transporte in die Luft jagten ... eine nicht gerade alltägliche Allianz. Und eine, von der in den offiziellen Geschichtsbüchern kaum etwas zu finden war. Wie ein alter chinesischer Historiker einmal sagte: »Die Geschichte schreibt, wer die Macht besitzt. Und er schreibt sie jeweils so, wie er sie braucht.«
   Leider hielt die damalige Liaison den Frieden nicht aus. England regierte bald wieder uneingeschränkt über seine Kolonie, und in der malaiischen Bevölkerung überwog das Gefühl, von den Kolonialherren wieder einmal verraten worden zu sein. In Zeiten der Waffenbrüderschaft war die Unabhängigkeit versprochen worden. Daraus geworden war die Verfolgung derer, die sie verlangten.
   Heute, so erzählte Lim seinen Zuhörern, stand die Unabhängigkeit immerhin bevor - Englands Lage hatte sich so verändert, daß es Kolonien aufgab, die nicht mehr das einbrachten, was sie an Aufwand erforderten. Nur daß die Früchte des jahrelangen Kampfes nicht die Bewaffneten um Chen Ping ernten würden. England würde die Macht in die Hände des meist islamisch orientierten städtischen Bürgertums legen.
   »Und trotzdem bleibt Chen Ping bei uns unvergessen«, sagte Lim. »Zuletzt haben die Engländer mit allen Kräften nach ihm gefahndet. Sie fürchten, er könnte eine Gefahr für das Bürgertum werden, das den zukünftigen Staat Malaya regieren soll. Auf seinen Kopf setzten sie eine Prämie von dreißigtauysend Pfund Sterling aus. Aber niemand weiß, ob er überhaupt noch lebt. Es ist möglich, daß er in einem der letzten Kämpfe gefallen ist ...«
   Er nahm eins der Gläser, die auf den [dem] Tisch standen und forderte uns auf, zu trinken. In diesem Augenblick sah ich, daß die Eingangstür vorsichtig aufgeschoben wurde: Es erschien der Leiter des Verlages mit einem Blumenstrauß.
   Ich mußte mir ein Lachen verkneifen. Die Situation war grotesk. Jemand von den ›Beobachtern‹ hatte offenbar den Verlagschef benachrichtigt, daß hier eine hochwichtige internationale Veranstaltung stattfand, bei der er nicht fehlen sollte. Es würde sich gut machen, wenn er sich der ›Ehrung‹ des Guerillas anschloß.
   Ich merkte, daß Lim ebenfalls Mühe hatte, nicht zu lachen, als der Chef vor ihn hin trat und es rundum still wurde. Der Verlagsleiter räusperte sich bedeutungsvoll, dann setzte er zu einer Rede an, die mir ziemlich aus dem Stehgreif zu kommen schien. Daraus erklärte sich, daß er von dem Mann, dessen Geburtstag wir hier vorschoben, noch weniger sagen konnte, als die meisten von uns inzwischen wußten. Aber er glich das geschickt aus, indem er wiederholt Lim dankte, weil der ›diese bewegende Feier‹ veranstaltet hatte. Ich musterte besorgt die Runde der Gäste. Aber sie hielten sich tapfer, was heißen will, sie bekicherten den Chef nicht, als der Lim endlich den Blumenstrauß in die Hand drückte, so als solle er ihn Chen Ping übergeben. Protokoll abgehakt?
   Doch nun kam erst einmal ich dran. Ich empfing den Dank der Verwaltung dafür, daß ich selbstlos meine Wohnung für die ›wichtige Feier‹ zur Verfügung gestellt hatte. Allerdings ließ der Danksager nicht unerwähnt, daß selbstverständlich die Verlagsleitung den kleinen Saal des Betriebes zur Verfügung gestellt hätte, ›wenn nicht die Initiative der Massen ihr zuvorgekommen wäre.‹
   Immer noch sah ich Gesichter, auf denen kein Grinsen zu merken war. Meisterhafte Beherrschung! Auch als der Chef schließlich noch Andy und Lu dafür dankte, daß sie sich in so vorbildlicher Weise für die Aufgabe zur Verfügung gestellt hatten. Andy verbeugte sich gekonnt, als er den Händedruck empfing und murmelte etwas, das sich anhörte wie: »selbstverständlich ... im Sinne der internationalen Solidarität ...«
   Einer der Gäste rief: »Bravo!« und hob eine meiner etwas angeknackten Teetassen, in der ihm Mao Tai serviert worden war.
   Die Sache stand auf der Kippe. Sie konnte jede Sekunde in eine Gaudi umschlagen. Das begriff wohl auch Lim so, denn er kam im rechten Augenblick auf die geniale Lösung - er begann nach dem letzten Wort des Chefs demonstrativ zu klatschen. Wie es üblich war, fielen die anderen sogleich ein. Und der Chef, der wohl froh war, die Situation einigermaßen gemeistert zu haben, hielt offenbar die lachenden Gesichter der Gäste für ein Zeichen dafür, daß seine Rede bei allen auf begeisterte Zustimmung gestoßen war. Er hielt sich nur noch kurz bei uns auf, dann verschwand er so unauffällig wie er gekommen war.
   So waren alle schließlich zufrieden, ein gutes Werk getan zu haben. Wir, weil wir es geschafft hatten, eine verfahrene Situation für Andy und Lu durch einen gelungenen Trick zu entschärfen. Und natürlich auch Andy, der froh war, daß seine heimliche Liebste nun so gut wie sicher keinen Ärger wegen ›ungebührlichen Benehmens gegenüber einem Ausländer‹ bekommen würde.

So tranken wir den Rest dessen aus, was Andy aus meinen Reserven auf den Tisch brachte, und es herrschte bis ans Ende der denkwürdigen Geburtstagsfeier das was man so allgemein mit dem Terminus ›Bombenstimmung‹ belegt. Als die Gäste mit der ›Choco-Lady‹ aufbrachen, nachdem Rewi sich bei ihnen bedankt hatte, war der Himmel im Osten bereits grau. Andy und Lu fuhren mit ihren Rettern im Kleinbus zum Zentrum zurück. Lim, Alan, und ich fanden noch irgendwo eine Flasche ›Bai Gar‹, eine alkoholische Flüssigkeit, die meist weniger pietätvoll von deutschen Besuchern als ›Kutscherkorn‹ bezeichnet wurde. Das führte dazu, daß unsere Wochenplanung ähnlich durcheinander geriet wie vorher die von Andy und seiner Lu: wir verschliefen den Ausflug zum ›schlafenden Buddha‹. -

Nachtragen muß ich, daß aus Andy und Lu doch noch ein amtlich registriertes Ehepaar wurde. Das geschah in den frühen sechziger Jahren, in einer Phase, die sich durch eine entspanntere Sicht des Phänomens Liebe seitens der chinesischen Behörden auszeichnete.
   Zugleich tat sich in England ähnliches, was die gesetzliche Ahndung der privaten Waffenniederlegung von Untertanen der Krone während des Koreakrieges betraf, den man nun verschämt ›Polizeiaktion‹ zu nennen begann: Sie blieben fortan straflos.
   Also heirateten Andy und Lu und gingen nach England, wo Andy dann als Korrektor bei der Zeitschrift ›Punch‹ arbeitete und wo seine beiden Töchter heranwuchsen.
   Obwohl der ›Punch‹ ein Markenzeichen für Humor ist, hat Andy meines Wissens diese Geschichte dort nie veröffentlicht ...

Ihr eigentliches Ende fand die Sache in den späten sechziger Jahren, während meines Aufenthaltes in Vietnam, als der nie offiziell erklärte Krieg dort auszubrennen begann. Ich hatte die Chance, mich mit meinem alten Freund Lim Hua in Singapore zu treffen. Zumal er mir telegrafierte, ich brauchte kein Geld mitzubringen, er sei gut drauf und bestreite alles - für den Bürger eines Landes, in dem es beim besten Willen keine Möglichkeit zum Umtausch eigener Zahlungsmittel in Fremdwährung gab, eine Botschaft von höchster Bedeutung!
   Singapore war damals schon nicht nur die Hochburg chinesisch dirigierten Handels in dieser Weltregion, es bot auch eine Unmenge sehenswerter Dinge für den Fremden, aufregend oder beschaulich, ganz nach Wahl.
   Um es vorweg zu sagen: Lim und ich landeten in Tua Pho, dem Stadtteil im Süden, der auch als Chinatown bekanntgeworden ist, weil sich hier im frühen neunzehnten Jahrhundert chinesische Einwanderer in großer Zahl ansiedelten und ihre Kultur verbreiteten. Bis heute ist Tua Pho eine Art exotisches Reservat in der supermondänen Handelsmetropole geblieben.
   Damals, als Lim mich in Kallang abholte, verriet er mir sogleich: »Du, es ist genau die richtige Zeit für einen Besuch, wir haben nämlich das Fest der hungrigen Geister, das mußt du in Chinatown erleben!«
   Wir hatten uns lange nicht gesehen, und es gab viel zu erzählen. Das taten wir gleich am ersten Abend ausgiebig, und zwar im gemütlichen Gewühl einer Straßenkneipe in der Sago Street, deren Inhaber ein entfernter Verwandter Lims war.
   Nicht nur in der Kneipe selbst, sondern auch draußen, in den engen Gassen, wimmelte es von Menschen, und eine Menge von ihnen war damit beschäftigt, vor den Häusern eine Art Altäre aufzubauen, auf denen sich milde Gaben, meist Eßwaren, türmten. Die hungrigen Geister sollten nicht darben!
   Nirgendwo sind die Pflege guter Verwandtschaftsbeziehungen und der Ahnenkult so wichtig wie unter Chinesen. Die Legende besagt, daß am ersten Tag des siebenten Mondes, etwa zu Herbstbeginn, die unsterblichen Seelen der Vorfahren aus dem Jenseits für einen Monat Urlaub bekommen, um auf der Erde zu kontrollieren, ob die Nachfahren auch ihre Ahnen angemessen verehren.
   Es ist eine Sache des Anstandes, eine Selbstverständlichkeit, in einem chinesischen Haus oder davor um diese Zeit einen Altar zu errichten und ihn mit Obst und Süßigkeiten, ganzen Mahlzeiten, Getränken und allen möglichen anderen wohlschmeckenden Dingen auszustatten. Dazu veranstaltet man eine Unmenge von Feiern, von der besinnlichen Erinnerungsstunde bis zum lärmenden Schwertertanz, um die Seelen der Urlauber zu unterhalten. Und das alles spielt sich in den Gassen von Chinatown ab. Zwischen Geschäften mit Juwelen oder lebenden Fischen, soeben kandierten Insekten, hundertjährigen Eiern, Froschschenkeln, frisch geschlachteten Schlangen, Tiger Balm, Bierbüchsen, Teeküchen, Wahrsagern und Bettlern.
   Unter einer prächtigen Palme bringen drei Briefschreiber die Worte ihrer Kunden zu Papier. Fotografen machen Familienbilder. Apotheker preisen geröstete Spinnenbeine an, oder getrocknete Seepferdchen zur Stärkung der Manneskraft. Das alles und so vieles mehr wuselt in der Zeit der ehrerbietigen Erinnerung, die auch eine der kleinen Freuden ist, hier durcheinander und schafft eine Atmosphäre, die man so schnell nicht wieder vergißt. Kopierbar ist sie ohnehin nicht.
   Mir schwirrte schon nach einigen Stunden der Kopf, und ich war froh, als wir uns in das Restaurant von Lims Verwandten zurückzogen, über dessen Eingang goldene Schrift auf rotem Untergrund verkündete, hier sei das ›Big Town Special‹.
   Am Tisch erschien mir Lim, sonst die Ruhe selber, eigenartig erregt, als er mir nach dem Essen verkündete, nun würde es die größte Überraschung seit einem Guerilla-Geburtstag geben, den wir einst in Peking gefeiert hatten. Ob ich mich daran erinnere?
   Ich war noch dabei, ihm zu gestehen, daß mir das ziemlich genau im Gedächtnis war, zumal die ganze Sache ebensogut hätte schiefgehen können, da forderte er mich auf, ich solle mich umdrehen.
   Hinter mir stand ein nicht gerade überragend großer Chinese von eigentlich unauffälligem Äußeren, etwas älter als ich vielleicht. Er lächelte mich vergnügt an und hielt mir die Hand hin. Noch ehe ich einen Scherz anbringen konnte, der mir auf der Zunge lag, nämlich die Frage, ob er eine der beurlaubten hungrigen Seelen der Lim-Familie sei, verbeugte er sich leicht und sagte: »Ich bin Chen Ping!«
   Ich brauchte eine Zeit, um diese Mitteilung zu verarbeiten. Dann erfuhr ich, er hatte das Ende des bewaffneten Kampfes um die Unabhängigkeit überlebt. War dann nach Singapore gegangen, als sich der zum Islam tendierende Malaienstaat auf dem Festland etablierte. Hier in Singapore, so erzählte er, während wir in der lärmerfüllten, auf eigenartige Weise gemütlichen Kneipe beisammensaßen, fühle er sich zu Hause. Hier lebten Chinesen, bewahrten ihre alten Traditionen, gaben ihm das Gefühl, in Sicherheit zu sein, unter lauter Freunden.
   Ein ruhiger, wie mir schien, recht nachdenklicher Mann. Es war nicht leicht, ihn sich mit einer Thompson unter dem Arm im Dschungel vorzustellen. Auf meine Frage nach seinen Erinnerungen an die Zeit der Kämpfe, antwortete er nur leise: »Ich sehe die Gesichter der toten Gefährten manchmal im Traum. Sie sprechen zu mir. Immer wenn ich mir darüber Gedanken mache, daß die Zeit uns zwang, den Krieg zu unserem Handwerk zu machen, bin ich froh darüber, daß jetzt bei uns endlich eine Generation aufwächst, die in ihren Träumen nicht mehr die toten Gefährten erblickt, sondern vielleicht eher die lachenden Gesichter ihrer Schulfreunde ...«
   Dann, als das Gespräch lockerer wurde, erwähnte Lim jene Feier, die wir damals in Peking zelebriert hatten, als Ablenkungsmanöver, um Andy und Lu aus der Klemme zu helfen. Chen Ping hatte er sie schon erzählt. Der Ex-Guerilla lachte vergnügt: »Selbstverständlich habe ich an dem Tag, den Lim mir nannte, nicht Geburtstag gehabt. In Wahrheit - ich weiß das Datum meiner Geburt gar nicht genau. Meine Familie starb aus, als ich noch ein Kind war, aber ...«
   In seinen Augen blitzte der Schalk, als er hinzufügte: »Seitdem ich die Geschichte von Lim hörte, habe ich jedes Jahr just an diesem Tage meinen Geburtstag gefeiert ...«
   Er sah sich um und machte dem Verwandten Lims hinter der Theke ein Zeichen. Wenig später stand der mit einem Tablett gefüllter Sektgläser an unserem Tisch, und Chen Ping forderte uns fröhlich auf: »Trinken wir auf alle jene, die damals das wichtigste Datum meiner Familiengeschichte ein für allemal verbindlich festsetzten!«

Ich habe über Chen Ping nachgedacht. Den Eindruck eines Kriegers machte er auf mich überhaupt nicht. Eher den eines Gebildeten, der bemüht ist, niemanden zu nahe an sich heran zu lassen.
   Der Kampf, für den er gestanden hatte, war nicht von ihm gewonnen worden, sondern von jenen, die im Gegensatz zu ihm keinerlei Risiko eingingen. Ihm selbst hatte er eher Unbill gebracht. Er war wohl klug genug, das erkannt zu haben. Aber durchblicken ließ er das nicht. Wahrung des Gesichts, um eine persönliche Niederlage nicht anerkennen zu müssen? Das wäre die einfachste Ausdeutung angesichts einer Welt voller gescheiterter Revolutionäre.
   Mir blieben Zweifel. Bei einer späteren Gelegenheit versuchte ich, mit ihm darüber zu sprechen. Aber er wich mir freundlich aus, indem er sagte: »Warum verblühten Blumen nachweinen? Schönere werden wachsen. Selbst wenn es unsere Asche ist, die ihre Wurzeln düngt ...«
   Für jede weitere Frage hatte er nur ein leises Lächeln ...


"Auch überm Jangtse ist Himmel" - 10. Kapitel: "Jangtse-Baby", S. 234-253.
ZITAT

JANGTSE BABY




Ich kann nicht mehr alle Kampagnen aufzählen, die in jener Zeit, im Sommer 1958, in China liefen, es war hauptsächlich noch die gegen die ›Rechten‹, aber es wurde auch gegen Revisionisten und Abweichler aller Art zu Felde gezogen. Außerdem gab es die ersten Anzeichen von etwas, das sich ›Großer Sprung nach vorn‹ nannte, und im Zusammenhang damit die ›Bewegung zur Gründung von Volkskommunen‹, sowie die ›Bewegung des Stahlschmelzens durch das Volk‹.
   Da ich an einer chinesischen Publikation arbeitete, hatte ich täglich damit zu tun. Mir (übrigens auch meinem Freund E.S., der im selben Betrieb tätig war), kam so manches an diesen ›Bewegungen‹, die einander ablösten, eigenartig vor. Zuweilen verstand ich nicht so recht, um was es ging, und manchmal war ich versucht, mir an den Kopf zu tippen, mit der bekannten Geste. Ich hätte auch ganz gern ab und zu laut lachen mögen, aber das unterließ ich lieber, ich war Gast im Lande, beratend tätig, in Sachen Innenpolitik also bestenfalls Beobachter, und ich war von diesen Wirren nicht persönlich betroffen. Dachte ich jedenfalls.
   Angefangen hatte es mit der Parole, daß ›Hundert Blumen blühen und hundert Schulen (im Sinne von Denkweisen) miteinander wetteifern‹ sollten.
   Das ließ sich so an, daß Leute - vorwiegend auf den sogenannten Datsebaos, den ›Große-Schriftzeichen-Wandzeitungen‹, wie man es annähernd begreiflich übersetzen kann ihre Meinung zur Politik im Lande äußerten, Mißvergnügen auch, Unzufriedenheit, Ärger über offenbaren Unsinn, den die ›Organe‹ anrichteten. Leute bemalten in Ermangelung von unbeschriebenem Papier - wohl auch des Preises wegen - große Zeitungsseiten mit den Schriftzeichen im Format von Handtellern, wobei sie dicke Pinsel benutzten, die die Schrift von dem unterliegenden Druck abhoben. Die Bögen wurden dann überall wo Platz war - auch da, wo eigentlich keiner war - angeheftet, man spannte Schnüre über Korridore und durch Büros und Kantinen und hing die Blätter, ähnlich wie Wäsche zum Trocknen aufgehängt wird, einfach hin, so daß jeder sie lesen konnte.
   Manchmal hatte man den Eindruck, in ganz China hinge eine komische Art von Wäsche herum. Man mußte den halben Tag gebückt laufen, etwa in einer Redaktion wie der unseren, in der aufrechter Gang ... na ja ...
   Wie leichtfertig es ist, vom äußeren Erscheinungsbild auf die Substanz der Sache zu schließen, lernt man in China schnell, und auch im Falle dieser Datsebaos erfaßte ich bald, was sich Mao Tse-tung, von dem die Idee zu dieser (und den folgenden) Kampagnen stammte, dabei gedacht hatte. Er wartete geduldig ab, und im geeigneten Moment drehte er den Spieß um. Er äußerte, auf den ›Hundert-Blumen-Aushängen‹ zeige sich das wahre Gesicht der politisch-gegnerischen Kräfte im Lande, und diese zu bekämpfen sei Ehrensache für jeden anständigen Chinesen. Worauf dann eben die ›Bekämpfungskampagne‹ folgte. Wer noch eine Woche zuvor auf einem Datsebao bemängelt hatte, daß keine Deckel für die Tintenfässer in den Büros vorhanden waren und so bei den Sandstürmen des Frühlings die Tinte zu Paste wurde, während sie unter den heißen Sommertemperaturen fortwährend austrocknete, der sah sich nun plötzlich als Anschußziel einer sogenannten ›Kampfversammlung‹, in der ihn zweihundert Leute anschrien, er wolle in Wirklichkeit nicht die Sache mit der Tinte verbessern, sondern das sozialistische Staatswesen dadurch öffentlich beleidigen, daß er andeute, die neue Obrigkeit sei zu dumm, Tintenfaßdeckel herstellen zu lassen. Je nach Verlauf einer solchen Versammlung (von der Art liefen allein in unserem Betrieb Dutzende täglich ab, bis in die späte Nacht hinein), auch je nach Reaktion des Einzelnen wurde er als ›ob seines Irrtums Kritisierter‹ oder als ›Reaktionär‹ deklariert. Im letzteren Falle ging die Sache weiter, und er konnte ›bekehrt‹ werden, oder aber als ›Rechtselement‹ eingestuft, was mit Sicherheit ernste Konsequenzen nach sich zog, zumindest den Verlust der Position im Arbeitsprozeß, nicht selten aber ›Umerziehung‹. Die wiederum konnte ›im Kollektiv der Kollegen‹ erfolgen, aber es konnte auch angeordnet werden, daß der Betreffende sich in einem Lager bei harter Arbeit zu reformieren habe. Ich erinnere mich, daß wir beiden Deutschen, die wir das alles mitansehen, für den letzteren Prozeß den flapsigen Ausdruck ›... er geht nach Arbeit macht frei‹ verwendeten, zumindest eine Zeitlang. Nicht daß wir diese Inschrift über den Lagertoren der Nazi-KZ’s vergessen hätten, nein, wir fühlten uns wohl eher daran erinnert, obwohl ein Vergleich hier unangebracht ist. Es war eine in vieler Hinsicht bewegte Zeit, als im Hochsommer 1958 mein Urlaub in Sicht kam. Ich wollte nicht nach Hause fliegen, sondern mir ein Stück Land ansehen, das mich schon lange interessierte.
   Den Jangtsekiang hinauf wollte ich fahren, mit einem Flußdampfer, der ›an jedem Hühnerstall‹ Station machte, von Shanghai bis mindestens Tschungking. Überraschenderweise bekam ich sogleich die Genehmigung dazu. Vielleicht war das der Fürsprache meines chinesischen Chefs zu verdanken. Der gab mir auch gleich noch ein paar nützliche Tips. China war alles andere als ein Touristenland, und zudem befand es sich in erheblichen innenpolitischen Turbulenzen. Daß ich sehr viel später einmal einen dreibändigen Roman über jene Zeit schreiben würde, ahnte ich damals noch nicht. Aber Unternehmungen dieser Art, wie eine Fahrt auf dem längsten Strom Asiens, standen schon lange auf meiner Wunschliste.
   Ich hielt mich ein paar Tage in Shanghai auf, bis ich einen Platz auf einem ziemlich abgearbeiteten Jangtse-Flußschiff bekam, das stromaufwärts fuhr. Da wurden Lasten befördert, vom lebenden Schwein bis zum Schaltschrank. Und es gab mehr als hundert Passagiere an Bord. Männer, Frauen, Kinder. Sie fuhren nicht alle bis Tschungking. Viele würden an einer der Anlegestellen unterwegs aussteigen, andere zusteigen - ein Bummelzug auf dem gelben Wasser des ›Kandijang‹, wie er auch genannt wurde, der ›lange Fluß‹.
   Daß in China, besonders in den Massenverkehrsmitteln, soziale Unterschiede nur in seltenen Fällen erkennbar wurden, weil Kleidung, Frisur und andere Äußerlichkeiten im Gegensatz etwa zu dem, was einem aus Europa geläufig war, sich fast aufs Haar glichen, wußte ich. Trotzdem überraschte mich, als wir Shanghai verließen und ich an der Reling stand, ein kleiner, schäbig gekleideter Mann, den ich auf fünfzig Jahre schätzte, und der zum üblichen Schlosserblau eine graue Schiebermütze auf dem kahlen Haupt sitzen hatte. Während wir die Front der beeindruckend hohen Gebäude am Bund, die Modernität und Geschäft suggerierten, an uns vorbeiziehen ließen, erkundigte sich der Mann bei mir: »English?«
   Ich gab höflich zurück: »German.«
   Und da schlug der kleine Mann freudig die Hände vor der Brust zusammen, strahlte mich aus seinen dunklen Augen an und rief in etwas chinesisch gefärbten Wienerisch: »Joa mei, a Deitscher! Servus! Hamma a gemeinsame Reise! San’s gegrüßt!«
   Er hielt mir die Hand hin und stellte sich vor: »Wu, mei Name, freit mi, an Deitschen z’treffa, wohin genga ma denn?«
   Er gab sich offensichtlich noch rechte Mühe, den Dialekt auch zu treffen. Ich vermutete, daß er in Westeuropa studiert hatte und die Sprache dabei auflas.
   Was der Figur nicht etwa ihre Komik nahm. Es gehört schon Disziplin dazu, ernst zu bleiben, wenn einen auf einem Jangtse-Schiff, das gerade Shanghai verläßt, ein Chinese ausgerechnet im gemütlichsten aller europäischen Dialekte anspricht. Immerhin war es aber angenehm, auf einer so langen Fahrt jemanden in der Nähe zu haben, mit dem man in der Muttersprache parlieren konnte - mein Chinesisch war nur angelernt, es bestand aus Redewendungen, die man täglich brauchte. Jeder Chinese, bei dem ich Versatzstücke davon praktizierte, unterdrückte stets ein nachsichtiges Lächeln.
   Deshalb gab ich Herrn Wu bereitwillig Auskunft: »Bis Tschungking. Urlaubsfahrt mache ich ...«
   Ich sagte ihm auch, wo ich arbeitete und woher ich kam. Sein Wienerisch, in dem er ein paar Bemerkungen machte, wurde zwar im Laufe unserer Unterhaltung disziplinierter, aber es kam mir bei einigen Bemerkungen, die er machte, so vor, als habe er unter jüdischen Wienern gelebt, deshalb erkundigte ich mich, wieso er die Sprache so gut beherrschte, und ich erfuhr, daß er etwas älter war, als ich ihn geschätzt hatte. Das passierte einem bei Chinesen öfters.
   Wu hatte in den dreißiger Jahren in Wien Medizin studiert. Um diese Zeit war daheim in China die Kuomintang an der Macht gewesen, die Partei Tschiang Kai-sheks. Aus ihrem Stall waren auch die Diplomaten in den Botschaften im Ausland. Und als Hitler Österreich zur ›Ostmark‹ Deutschlands machte, verblieb in Wien ein Konsulat Chinas, die Botschaft befand sich danach in Berlin. Das war die Zeit, zu der Herr Wu, der mit vollem Namen Wu Tai-hsien hieß, den Beruf des Mediziners erlernte. Er sah verbittert zu, wie seine ehemaligen Mitstudenten mit Zahnbürsten das Kopfsteinpflaster schrubben mußten, nur weil sie Juden waren. Nach seiner Promotion blieb Wu mit Duldung des Konsulats für eine Praktikantenzeit in Wien. In dieser Periode brach der zweite Weltkrieg aus.
   »Aber i«, erzählte mir Wu freimütig, »i hoab an Schutzengel gehoabt! I könnt weitermacha. Hoab viel lerna kenna. Hoab mi dann auf Frauenkrankheiten und Geburtshilfe spezialisiert ...«
   Er erzählte mit Unterbrechungen. Immer wieder sah er sich an Bord um, als erwarte er noch jemanden, oder als fühle er sich verfolgt.
   Wir legten nicht lange nach der Ausfahrt nochmals am Südufer der Mündung des gewaltigen Stromes an, der besonders an seinem Unterlauf oft eher einem System von miteinander verbundenen Seen ähnelt als einem Fluß. Auf dem Jangtse, das wußte ich von einer früheren, kurzen Fahrt bis Nanking, fühlt man sich, wenn der Schiffsführer in der Mitte des Stromes manövriert, wie auf dem Meer.
   Jetzt war das noch nicht so, denn in Woosung wurde Ladung genommen. Wir beobachteten das Einladen, und Wu war so nervös, daß ich mich doch nach seinem Befinden erkundigte.
   Er schien sich zu der Wahrheit erst durchringen zu müssen, denn es vergingen Minuten, bis er mir eingestand: »Joa, i schau, ob Leut’ komma, die mi kenna ...«
   »Haben Sie nicht gern, wenn Bekannte Sie begrüßen?«
   Es dauerte wieder eine ganze Weile. Erst vergewisserte er sich, daß keine Passagiere mehr an Bord genommen wurden, die er noch nicht gesehen hatte.
   Dann flüsterte er mir zu: »I bin a Element!«
   Ich war in China gewöhnt, verquere Sprüche zu hören. Manchmal entstanden sie aus der Bemühung, einen chinesischen Begriff wortgetreu ins Deutsche oder ins Englische zu übersetzen. Aber was war nun ein ›Element‹?
   Als ich Herrn Wu verständnislos ansah, merkte ich, wie Angst in sein Gesicht schoß. Er flüsterte, sich Mühe gebend, hochdeutsch zu sprechen: »Werden Sie’s für sich behalten? Bitte!«
   Ich wußte, daß man auf Chinesen nicht gerade den besten aller Eindrücke macht, wenn man Ungeduld zeigt, aber ich konnte es nicht verhindern, daß mir die Frage entfuhr: »Was zum Teufel soll ich für mich behalten? Und was ist ein Element?«
   Es dauerte lange, bis er sich überwand. Dann erinnerte er mich: »Sie kennen doch die Bewegung?«
   In China gab es unzählige ›Bewegungen‹, von der zur Sammlung der Altstoffe über die Geburtenkontrolle per Präservativ bis zur Sauberhaltung der Gassen oder der Bekämpfung von Fliegen, also zuckte ich die Schultern: »Welche?«
   »Gegen die Rechtselemente. Doss bin ich. A Rechtselement eben ...«
   Erst da begriff ich. Und ich konnte mir manches an seinem Benehmen erklären, Als wir aus Woosung ausliefen, lud ich den Arzt in meine Kabine ein. Ich hatte als einziger an Bord eine, einen einfachen Raum mit einer Pritsche. Es war Vorschrift, hatte man mir, als ich die Fahrt buchte, gesagt, daß ein Ausländer eine Kabine buchen mußte. Ich begriff das später erst. An Bord eines solchen Flußdampfers, der ja nicht als Vergnügungsschiff unterwegs war, sondern Passagiere beförderte, die in Siedlungen am Strom wohnten, dazu ihre Hühner, Schweine manchmal, Behälter mit Fischbrut, fand man meist sehr einfache Leute, Dorfleute eben, aus Zentralchina, und die waren nicht an Ausländer mit anderer Hautfarbe und vielerlei anderen Unterschieden gewöhnt. Sie pflegten das nicht zu verbergen, ließen ihrer Neugier freien Lauf, und das empfand die ›Obrigkeit‹ als nicht so gutes Image für die künftige Weltmacht China. Deshalb achtete sie auf eine gewisse Distanz die, so dachte man da, sei durch die einzige Kabine an Bord gegeben.
   Wobei man nicht berücksichtigte, daß Reisende ja auch einmal eine Toilette benutzen mußten, daß sie sich wuschen oder duschten. Und gerade dabei erwies es sich, daß man höfliche Zurückhaltung bei Chinesen tatsächlich als Teil des so oft strapazierten ›Nationalcharakters‹ bezeichnen kann. Wenn ich zur Toilette ging, riefen die Mütter selbst neugierige Kinder zurück, die gern sehen wollten, wie die ›Langnase‹ sich da anstellte. Das ›Schlimmste‹ an Indiskretion, was mir auf diesem Boot unter Menschen, die noch nie - mit Ausnahme des Arztes vielleicht - einen Europäer aus der Nähe und bei täglichen Verrichtungen gesehen hatten, passierte, war der staunende Ausruf einer Frau, die mich mit unbekleidetem Oberkörper sah. Sie wollte wissen, ob es mir mit dem Pelz nicht zu warm sei, bei 38 Grad Celsius im Schatten, den wir nicht hatten.
   Meine Erklärung, daß das auf der Brust gewachsene Haare seien, kein Kleidungsstück, nahm sie mir nicht so ohne weiteres ab, weil Chinesen eben Haare auf der Brust nicht kennen. Sie wollte daran zupfen, und ich ließ sie das tun, unter dem Gelächter der Umstehenden. Was zur Folge hatte, daß später, immer wenn ich die Dusche benutzte, ein halbes Dutzend Kinder sich draußen drängten und die ›Langnase mit Pelz‹ sehen wollten. Möglichst daran zupfen, um damit prahlen zu können. Ich gestehe, das machte mir mindestens ebensoviel Spaß wie ihnen!
   Ich nahm also Doktor Wu mit in meine Kabine, und wir unterhielten uns ohne Zeugen, bei heißem Wasser aus der überall vorhandenen Thermosflasche, mit ein paar Teeblättern in den Tassen, während der Dampfer stromauf Fahrt machte.
   Draußen bereiteten sich die Passagiere auf die Nacht vor. Sie rollten ihre Matten aus, ohne die sie nie reisten, bald herrschte Ruhe, nur das Stampfen der Maschine war zu hören, das Plätschern des Kielwassers, und hin und wieder seufzte jemand auf dem Deck draußen im Schlaf. Eine große Familie, einer neben dem anderen, so lagen sie da, im linden Hauch der Abendbrise.
   Und ich - der einzige an Bord, der durch eine dünne Holzwand von den übrigen getrennt wohnte, schlief nicht, sondern ließ mir von Doktor Wu erzählen, was die Ursache seiner Angst war ...
   Ein Jahr nach Ende des Krieges im Pazifik hatte er die Heimreise angetreten. China war ein armes Land, es brauchte -nicht nur - Ärzte. Wu folgte, wie er es ausdrückte, dem Ruf der Pflicht. Er hatte eine Österreicherin geheiratet, die nahm er mit. Vorerst nach Kanton, dort war schon ein ziemlich normales Leben möglich. Aber je weiter nördlich man kam, desto näher geriet man an die Auseinandersetzungen zwischen der Kuomintang und den chinesischen Kommunisten, die von Jenan aus zur Erringung der Macht im Lande aufgebrochen waren.
   Zwei Jahre nachdem Mao Tse-tung von der Brüstung des Tien An Men aus die Gründung der Volksrepublik proklamiert hatte, starb Wu’s Frau an den Spätfolgen einer nicht völlig auskurierten Gelbsucht, eine in dieser Gegend nicht seltene Todesursache.
   Wu blieb im Lande, obwohl er eine Wreile mit dem Gedanken spielte, nach Österreich zurückzugehen, das wieder selbständige Republik war, und wo er viele gute Freunde hatte. Er bekam im Stadtkrankenhaus in Shanghai eine Stelle als Leiter einer Frauenstation, und war bald ein angesehener Arzt in der riesigen Stadt, der selbst auch zufrieden mit sich war, weil er seine im fernen Europa erworbenen Kenntnisse nun zum Wohl der seit Generationen geschundenen, von einem Krieg in den anderen, von einer Hungersnot in die nächste getorkelten Landsleute verwenden konnte. Bis auf daß er keine Frau mehr hatte, auch keine Kinder, und daß er sich auch nicht mehr so recht entschließen konnte, wieder zu heiraten, war er ein glücklicher Mann. Und - ein Patriot. Ich verwende diesen Begriff mit äußerster Vorsicht. Aber ich bekam den Eindruck, als Wu, der schnell Zutrauen zu mir, dem einzigen Europäer weit und breit gefaßt hatte, mir sein Leben erzählte. Unter Chinesen, die lange gemeinsame Reisen machen, ist so etwas nicht unüblich, man vertreibt sich die Zeit mit Schilderungen seiner Vergangenheit. Ich empfand das als wohltuend andersartig, denn ich war es als Europäer gewohnt, daß sich die Leute auf Reisen vornehmlich Witze erzählen, eine kulturelle Äußerung, der ich nicht unbedingt den Vorrang vor der chinesischen Gewohnheit einräumen möchte. Und trotzdem - Wu war wohl nur so offen, weil ich eben kein Chinese war, sondern Ausländer. Er fühlte sich von mir nicht bedroht, rechnete wohl sogar damit, daß ich seine Misere verstehen würde.
   Patriot Wu. Glücklicher Mann, trotz des Schmerzes. Er fand Freude in der täglichen Arbeit, wurde von seinen Patientinnen verehrt, man sprach über ihn, lobte ihn, zeichnete ihn für gute Leistungen aus, bis - und da komme ich zurück zu den ›Bewegungen‹.
   Die ›Hundert Blumen‹ blühten auch in Shanghai. Und es fing damit an, so erzählte mir Wu bei Tee und Keksen, im Licht einer Kerze, um die ein paar Motten schwirrten, untermalt vom gelegentlichen Schnarchen eines der Deckschläfer, daß er fand, an der Fürsorge für die Patientinnen könnte einiges verbessert werden.
   Das fing beim Essen an, bei der Wäsche, den hygienischen Einrichtungen im Hause, ging über die nach Wu’s Meinung nötig werdende Qualifizierung der in China ausgebildeten Ärzte ›hin zum Weltniveau‹ bis zu den dogmatischen Funktionären in der Verwaltung, die es zum Gipfel des Vaterlandsverrats erklärten, als Wu in einem Datsebao schrieb, es wäre gut, wenn die jungen Ärzte zu ihrer Weiterbildung die Lektüre ausländischer Fachpublikationen nutzen könnten.
   Man veranstaltete mit ihm das, was ich auch aus unserem Betrieb kannte, eine sogenannte ›Kampfversammlung‹, in der der ›Bekämpfte‹ allein auf der Bühne stand und von vorbereiteten ›Anklägern‹ aus dem Saal in einer sehr gut eingeübten Prozedur seine Sünden wider die Gesellschaft in schreiendem Ton vorgehalten bekam. Das konnte Stunden dauern. Manchmal zog sich der Prozeß mit Pausen über Wochen hin. Für gewöhnlich endete er damit, daß der ›Bekämpfte‹ seine Stellung verlor. Politische Freigeister und Unliebsame wurden auf diese Art verdrängt, mancher total Harmlose war dabei, der nur eine Dummheit geäußert hatte. Nicht selten aber wurden alte Rechnungen beglichen, sehr private, und der Neid war im Hintergrund der Anklagen allgegenwärtig.
   »Ich habe jetzt ein halbes Jahr in der Krankenhausküche Geschirr gewaschen«, erzählte mir Wu. Seine Stimme vibrierte etwas dabei, ich wurde mir nicht klar, ob aus Zorn oder aus Angst, daß sich das fortsetzen könnte.
   »Und dann«, er konnte, wenn er ernste Dinge berichtete, mundartfrei deutsch sprechen, »brachte ein Kollege, den ich einmal wegen eines Kunstfehlers gerügt hatte, das Gerücht in Umlauf, ich hätte während meiner Studentenzeit der österreichischen Geheimpolizei Informationen über Kommilitonen geliefert, die dann eingesperrt wurden, wegen kommunistischer Sympathien. Auch meine verstorbene Frau hätte da mitgetan. Deshalb wäre sie auch mit nach China gekommen, weil man sie in Deutschland wohl belangt hätte. Bedenken Sie, er klagte mich an und wußte nicht einmal, daß nach dem Krieg Österreich wieder Österreich war und nicht Deutschland!«
   »Hat er die Namen von Betroffenen genannt?«
   »Es gibt keine Betroffenen«, antwortete Wu heftig, »deshalb konnte er auch keine Namen nennen. Er war in seinem Leben weder jemals in Österreich noch in Deutschland, er wollte sich, wie andere Nichtskönner auch, eine gute Position verschaffen. Leute wie er lügen. So einfach ist das, einen Menschen kaputtzumachen.«
   Ich sagte: »Ich habe das miterlebt. Laut schreien genügt. Was war dann? Geschirr waschen?«
   Seine Stimme wurde noch leiser, sein Deutsch noch sorgfältiger, als er mir antwortete: »Sie haben mich bereits zu Lao Gai verurteilt. Ich bin auf der Flucht!« Lao Gai war die Bezeichnung für das, was einem ›bekämpften Element‹ drohte, wenn endgültig entschieden wurde, daß der Betreffende aus der Gesellschaft auszumerzen sei. Es hieß wörtlich ›Ehrenhafte Arbeit‹, was eine verharmlosende Vokabel war. In Wirklichkeit eine Prozedur, die sich in unwegsamen Gegenden des Nordwestens abspielte, und die viele Leute das Leben kostete. Die Gesundheit in jedem Falle.
   »Sie wollten mich in einen Steinbruch in Sinkiang schicken«, sagte Wu. »Es war schon alles abgemacht.« Er bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. Hielt mir seine Hände hin: »Die würden als erstes zerstört werden. Wie soll ich mit Händen, die von Granit zerschunden sind, jemals wieder eine Operation ausführen?«
   Ich beruhigte ihn. Er hatte sich mir anvertraut, und nun hielt ich es für selbstverständlich, ihm zu helfen. Fragte sich, ob ich das konnte. Zuerst erkundigte ich mich, ob irgend jemand von seiner Flucht wisse, ob jemand gesehen habe, daß er den Dampfer bestieg, ob es Zusammenhänge gab, die den Behörden den Verdacht nahelegen könnten, er sei auf dieser Route.
   »Nein«, erwiderte er kategorisch. »Niemand weiß etwas Man wird ein oder zwei Tage brauchen, bis man merkt daß ich weg bin. Und - ich habe aufgepaßt. In Shanghai, auch in Woosung ist niemand mehr zugestiegen, der auch nur ein bekanntes Gesicht hatte.«
   Das, fand ich, waren gute Chancen. In einem solchen Falle war es müßig, um sein Recht kämpfen zu wollen. Das Recht galt während dieser Kampagnen nichts. Nein, da war Ausweichen die bessere Methode. China war geradezu das klassische Land für Ausweicher. Ein unermeßliches Land. Hier einen einzelnen Menschen aufzuspüren, war schier unmöglich, wenn der Betreffende nicht einen entscheidenden Fehler machte. Nur - wohin konnte Wu gehen? Überall wo er sich ansiedelte, konnte man Papiere von ihm verlangen, und eines Tages könnte jemand über eine Rückfrage doch dahinter kommen, weshalb er Shanghai verlassen hatte.
   Als ich ihn darauf aufmerksam machte, um Möglichkeiten zu beraten, lächelte er verlegen. So wie Chinesen das zu tun pflegen, wenn sie sich genötigt fühlen, einen Ausländer zu korrigieren.
   »Gefährdet bin ich nur noch während der Reise. An meinem Bestimmungsort ist alles geregelt. Niemand wird mich kennen.«
   Das überraschte mich. »Und wo ist das?«
   Er hatte Vertrauen genug zu mir Fremdem und bewies es, indem er mir erzählte: »Der Ort heißt Yingshan. Ein kleines Nest in der Hwaijang-Bergkette, unweit des Wushangkwan-Passes. Ich habe die Bürgermeisterin des Ortes operiert. Es ging auf Leben und Tod, aber ich konnte sie retten. Nun habe ich mich an sie gewandt, und sie hat nur gesagt, ich solle sofort kommen, ich wäre in ihrem Ort sicher, und ich könnte als Mediziner arbeiten, man brauche mich sogar. Und wie ich heiße, würde man selber festlegen ...«
   Da ich die Provinz Hupeh nicht so genau kannte, klärte er mich auf, er werde in Wuhan das Schiff verlassen. Bis in die Nähe vom Wushangkwan-Paß gäbe es eine Eisenbahnlinie, die werde er nutzen.
   »Und dann?«
   Er lächelte wieder.
   »Ich werde mit einem Team von Laienmedizinern arbeiten, das weiß ich schon. Wir werden Dörfer besuchen, in denen man überhaupt noch keinen Arzt gesehen hat.«
   »Also müssen wir nur noch hier an Bord fürchten, daß Sie jemand erkennt?«
   Er sagte: »Ich glaube, die Gefahr ist vorbei. Wir sind schon weit von Shanghai weg.«
   Er verließ dann später meine Kabine, um nicht zuviel Aufmerksamkeit zu erregen, weil er sich als Chinese zu sehr mit einem Ausländer abgab. Aber er versprach mir, am Morgen würde er nun seinerseits ein Gerücht in die Welt setzen, nämlich daß ich einer dieser hochgeschätzter ‹i›Suliän‹/i› sei, die China zu Hilfe gekommen waren, und es eine Ehrenpflicht sei, mir bei Verständigungsproblemen zu helfen, da ich die Sprache nicht so ganz beherrsche. Und außerdem wäre es einfach ein Gebot der Höflichkeit, einem Freund zu helfen. Ich hatte so meine Bedenken, ausgerechnet als ‹i›Suliän‹/i› zu gelten, das hieß wörtlich übersetzt Sowjetbürger, aber ich machte mir weiter keine Gedanken. Die Chinesen nannten der Einfachheit halber vielfach alle Leute mit heller Hautfarbe, die als Helfer zu ihnen kamen, ‹i›Suliän‹/i›.
   Wu rollte sich draußen auf dem Deck auf seiner Matte in eine Decke und schlief. Ich träumte, wenn ich nicht schwitzend wach lag, von einer grünen Wiese, die viel Ähnlichkeit mit der am Rande des Strandbades Wildgrund in der Nähe meiner oberschlesischen Heimatstadt hatte. Bis mich dann aus einem Halbschlaf, in den ich bei Hellwerden gefallen war, die Stimme des Kapitäns weckte. Er wollte wissen, ob ich gut geschlafen hätte, ob es mir überhaupt an Bord gefiele und ob ich besondere Wünsche vorbringen möchte. Ein Passagier, der meine Sprache beherrsche, hätte ihn informiert, daß ich ein ganz bedeutender Mediziner sei, nach China gekommen, um zu helfen ...
   Ich erschrak. Das konnte nur Wu gewesen sein, der in aller Frühe den Kapitän angelogen hatte. Was hatte er da in guter Absicht nur zusammengeflunkert!
   Ich entschloß mich, zu dieser Sache erst einmal gute Miene zu machen, wer konnte wissen, ob ich Wu nicht vielleicht damit nützte. So äußerte ich nur, daß ich ganz gern die landesüblichen Mantou zum Frühstück essen würde, Jasmintee wäre mir recht, und, ja, Hamandeggs (eine Vokabel, die alle Jangtse-Skipper noch aus der englischsprachigen Vergangenheit beherrschen, reines China-Pidgin) wären sehr schön, ansonsten alles was die Chinesen zu essen pflegen, außer Geflügel. Vorsichtshalber sagte ich nicht, daß ich Federvieh einfach nicht mochte, ich klärte ihn auf, ich hätte eine Allergie dagegen, was der Kapitän in Ermangelung einschlägiger Kenntnisse sofort kommentarlos respektierte.
   Später, als ich mit Wu sprach, teilte der mir kichernd mit, der Kapitän halte eine Allergie für eine religiöse Überzeugung, die er zu achten habe. Er habe den Koch schon instruiert.
   »Sie werden nie Geflügel vorgesetzt bekommen! Und, verzeihen Sie mir, daß ich Sie als Arzt deklariert habe, mir fiel nichts besseres ein, als der Kapitän so plötzlich meinen Rat wollte. Er habe noch nie seit der Befreiung einen Ausländer auf seinem Kahn gehabt ...«
   »Ich verzeihe Ihnen!« erklärte ich feierlich und augenzwinkernd. Wie leichtfertig das war, kam mir wenig später zum Bewußtsein. -
   Am Morgen ist der Jangtse in das Grau des Flußnebels gehüllt. Ab und zu kämpft sich durch den Dunst der röhrende Schrei einer Sirene von einem anderen Schiff. Dann antwortet das eigene.
   Es riecht nach nasser Erde, nach Regen, nach all möglichen Dingen auch, die einem unbekannt sind, und dann plötzlich, es ist wie ein Schrei, knallt die Sonne durch die letzten verwehenden Fetzen am Himmel, und sogleich erstrahlt der Fluß trotz seines trüben Wassers bis ans Ufer, weil das Licht sich in den Millionen winziger Wellenkämme bricht, die der leichte Wind aufwirft.
   Ansonsten ist der Jangtse eben voller Schlamm, schwemmt riesige Mengen davon zum Meer, und klares Wasser hat er so gut wie nie gehabt. Aber er ist ein unvergeßliches Erlebnis, in dem sich die Gewalt der Natur ahnen läßt.
   Auf einem Dampfer wie dem unseren glitt man nahezu lautlos stromaufwärts, vorüber an den grün bewachsenen Ufern, wo Siedlungen sich ducken, wo plötzlich Fabriken erkennbar werden, an ihren hohen Schloten, wo Herden von Federvieh das ruhige Wasser bevölkern und gelegentlich Kinder an seichten Stellen spielen. Sommer in Zentralchina. Aus der Glocke des klarblauen Himmels knallten gute 50 Grad Celsius herab, und Schatten ist rar.
   Schweigend gleiten Sampans vorbei, im Heck eine aufgerichtete Gestalt, Mann oder Frau, die den Dampfer beäugt, bewegungslos. Ab und zu hebt auch einer dieser Bootsleute die Hand, signalisiert unserem Kapitän, daß es ihn noch gibt- Flußleben.
   Wir verbrachten einen trägen Tag. In Nanking wurde Fracht ausgeladen, neue aufgenommen. Passagiere, meist mit riesigen Bündeln voller Habe, aber auch welche mit Körben voll Hühner oder Ferkel kamen an Bord, andere verließen das Schiff.
   Wu beäugte die Neuankömmlinge mißtrauisch, aber wir waren wohl doch weit genug von Shanghai weg, und hier bestand kaum noch die Gefahr, daß ihn jemand erkannte.
   Der Zufall schlug einen Tag und eine Nacht später zu. Ganz anders, als Wu Tai-hsien und ich es erwartet hatten. Wir wurden total überrascht.
   Die Leute an Bord hatten sich an mich gewöhnt, daran daß, wenn es sehr heiß war, und ich kam aus dem Verschlag mit der Dusche, auf meiner Brust Haare zu sehen waren, daß ich manchmal mit ihnen Karten spielte, auch Mah Jongg, auch daß Wu oft mit mir schwatzte, weil er eben die Sprache beherrschte, weit besser als ich die seine. Die Leute brachten mir eine Art erträglichen Respekt entgegen. Das heißt, sie übertrieben es nicht. Ich war akzeptiert, das beste, was einem als Fremdem in einem solchen Lande widerfahren kann: Wenn ich eine falsche Karte ausspielte, veralberten sie mich genauso wie einen der ihren - das genau ist die Grundlage dafür, daß man sich unter Fremden wohlfühlt, egal wo es ist, und nicht immer als Ausnahmeerscheinung betrachtet wird, für die besondere Spielregeln gelten.
   In Wuhu, einem Anlegeplatz, an dem viel Fracht umgeladen wurde, wohl weil die Stadt ein Eisenbahnknotenpunkt war, stieg der Armeeoffizier mit seiner Frau zu, einer kleinen, hochschwangeren Person, der das Gehen schon erhebliche Schwierigkeiten machte. Auch das Sitzen. Aber sie war guter Dinge, lagerte sich auf ein paar schnell herbeigeschaffte Polster in den Schatten der Aufbauten, und wenn doch einmal ein Sonnenstrahl sie erreichte, weil das Schiff eine Krümmung des Stromes befuhr, hielt der Offizier einen schwarzen Regenschirm über sie.
   Wir saßen am Abend bei einer Partie Erh-she-yi, einem Spiel, das man in Deutschland Siebzehn und Vier nennt. Gerade waren wir an Tungkwan und Tatung vorbei, da entstand auf der Brücke Unruhe. Wir hörten die Stimme des Kapitäns, mürrisch: »Ich habe noch gesagt, besser in Tungkwan an Land gehen, mit ihr! Aber nein, er will, daß sie es bis Wuhan schafft ... niemand hört darauf, was ich sage, jetzt ist es zu spät ...«
   Nach einer Weile sagte Wu zu mir: »Da ist etwas mit der Schwangeren, höre ich ...«
   Wir konnten die Partie nicht zu Ende spielen, weil plötzlich bei uns, die wir am Heck auf Matten saßen, der Kapitän erschien, mit ihm der Offizier, aufgeregt beide, der Offizier den Tränen nahe. Sie redeten so schnell auf mich ein, daß ich überhaupt nichts mehr verstand, immer nur: »Tjing nin, bang mang, yi-sheng ...« Das war ein Ersuchen um Hilfe, an einen Doktor gerichtet, soviel konnte ich fassen. Wu flüsterte mir zu: »Sie hat schwere Wehen. Das Kind kommt. Sie sollen es zur Welt bringen, bittet der Offizier Sie ...«
   »Ich? Ein Kind zur Welt bringen? Ich habe keine Ahnung von Geburtshilfe!« Er hörte das kommentarlos an, wobei ich in seinen Augenwinkeln Schalk zu entdecken glaubte, dann sagte er freundlich etwas zum Kapitän, und der gab sofort mehrere »Hao, hao’s« von sich, Zeichen von Zustimmung. Auch der Offizier nickte.
   Wu, der aussah wie ein braver, etwas zögerlicher Mann, bewies nach seiner Flucht, die mir schon als Produkt kühler und schneller Entschlußfähigkeit vorgekommen war, erneut, daß er zu souveränem Handeln in kritischen Situationen fähig war.
   Er sagte zu mir: »Tun Sie genau was ich sage. Ich mache das. Aber die Leute halten Sie für den Arzt, nicht mich. Das können wir ihnen jetzt nicht ausreden. Wir verfahren so, daß Sie mir erlauben, Ihnen zu assistieren, weil ich mich mit Ihnen in Ihrer Sprache verständige ... der Rest geht schon seinen Gang ...!«
   Als ich ihm etwas beklommen zustimmte, glücklich, daß die umstehenden Chinesen unser Gespräch ja nicht verstanden, obwohl er jetzt ziemlich reines Hochdeutsch sprach, nicht den Wiener Dialekt, verbeugte er sich, als nehme er von mir Anweisungen entgegen, sprach dann zum Kapitän, worauf der wieder »Hao, hao« erwiderte und mit dem Offizier verschwand.
   »Schauspieler hätten Sie werden sollen!« knurrte ich Wu an. Wir waren allein. Irgendwo wimmerte leise die Frau, um die sich das alles drehte. Wu grinste nur.
   »Was wird das?« wollte ich wissen. »Ich weiß mir beim Arsch keinen Rat, wenn eine Frau ein Kind kriegt! Und hier soll ich die männliche Hebamme spielen!«
   Er winkte ab: »Alles geregelt. Es ist etwa das zweitausendachthundertste Kind, dem ich auf die Welt verhelfe. Spielen Sie den Chef, überlassen Sie alles andere mir. Kommen Sie, die Geburt wird in Ihrer Kabine stattfinden, es gibt sonst keinen abgeschlossenen Raum auf dem Schiff ...«
   »Auch noch!« stöhnte ich. Aber ich folgte ihm. Ich hatte gar keine Zeit, über sein resolutes Vorgehen zu staunen, denn Kapitän und Offizier schleppten, weil Wu das ›in meinem Auftrag‹ verlangt hatte, Decken, Polster, Leinentücher, heißes Wasser, eine Flasche Mao-Tai-Schnaps, ein Küchenmesser, eine Menge Mullbinden aus der Schiffsapotheke heran. Im Nu war aus meiner Kabine eine Gebärstube geworden. Wir trugen die Frau hinein, legten sie auf den Tisch, stopften ihr Polster ins Kreuz, ließen sie zur Ruhe kommen, schickten den Kapitän und den werdenden Vater weit weg, und dann widmeten wir uns der Aufgabe, die die Natur uns so unverhofft gestellt hatte.
   Ich war das erste Mal überhaupt bei einer Geburt dabei. Für mich ein Ereignis, das ich nie vergessen werde. Wir schrubbten unsere Hände in heißem Wasser, desinfizierten sie außerdem noch mit dem hochprozentigen Mao Tai, wobei Wu leise zu der Frau sprach. Mir sagte er zwischendurch: »Ich beruhige sie. Es ist das erste Kind, da sind die Frauen manchmal ängstlicher als nötig!«
   »Die Männer auch«, konnte ich mir nicht verkneifen, ihn wissen zu lassen.
   Er erklärte mir: »Aber sie hat Vertrauen zu Ihnen! Dafür habe ich schon gesorgt.«
   Ich zischte ihm zu: »Unsinn! Zu Ihnen muß sie Vertrauen haben, Sie österreichischer Medizinmann! Ich habe keinen Schimmer, was man jetzt macht!«
   Er verbeugte sich, als habe er gerade Instruktionen von mir bekommen. Wandte sich dann der Frau zu, die wieder leise wimmerte und sprach ein paar beruhigende Worte.
   Zu mir: »Sie gehen hinter ihren Kopf. Fächeln ihr Luft zu. Tupfen den Schweiß ab. Summen Sie dabei etwas vor sich hin. Können Sie chinesische Lieder?«
   »Ich kann den Choral von Leuthen auf einem Kamm blasen!«
   »Keinen Kamm«, entschied er sachlich. »›Der Osten ist rot‹. Summen. Leise. Damit sie abgelenkt wird. In Wien haben wir oft bei Geburten Musik laufen lassen. Sehr originelle Methode ...«
   Die Sache gewann langsam einen Zug von Komik, und meine Furcht vor einer Verantwortung, der ich nicht gewachsen war, verflog. Aber das Wimmern der Frau setzte mir schon zu. Ich hatte keine Zeit mehr zum Überlegen. Sie stieß plötzlich einen spitzen Schrei aus, und ich sprang hinter ihre Schultern, hielt sie, fächelte ihr Luft zu, tupfte, und ich war froh, als ich sah, daß Wu den Rest der Arbeit übernommen hatte. Also summte ich ›Der Osten ist rot‹.
   Wus Gesicht war schweißüberströmt. Aber das war wohl kein Zeichen von Angst, sondern eine ganz normale Erscheinung bei diesen Jangtse-Nächten mit ihren 30 Grad Celsius, und das in einem Verschlag, mit einer Geburt beschäftigt.
   Doktor Wu brummte zufrieden, feuerte die Frau an, beruhigte sie, schauspielerte ab und zu in meine Richtung, bis er dann plötzlich einen Jubelruf ausstieß, und ich sah das Baby.
   Wu begoß das Messer mit Mao Tai. Dabei teilte er mir hocherfreut mit: »Ein Junge!«
   Ich konnte gerade noch brummen: »Das hätte ich zur Not auch erkannt«, da fiel der Kopf der Frau zurück. Ich befürchtete, sie könnte ohnmächtig werden, aber es war nur die Reaktion auf die Anstrengung. Ich hörte Wu rumoren, hörte den ersten Piepser des Babys, und ich hatte den Eindruck, ich müsse allen Schweiß der Welt von den Stirnen aller Frauen dieses Planeten tupfen, bis mir nach einer unendlich erscheinenden Zeit Wu in den Arm fiel und sagte: »So, wir wollen sie mal wieder bißchen flacher lagern ...«
   Das war geschafft. Ich kam erst so richtig zu mir, als die Frau die ersten Koseworte zu dem in Tücher gepackten Bündel sprach, das Wu ihr in den Arm gelegt hatte. Er schmiß alle teils bebluteten Fetzen, die herumlagen, in die Schüssel mit dem Wasser, räumte auf, dann schob er die Tür auf und verbeugte sich tief vor dem Vater und den Kapitän, die beide erwartungsvoll dastanden.
   Ich hörte ihn etwas sagen, wobei er auf mich wies. Dann befand ich mich plötzlich in der Umarmung des Offiziers, der sich auf diese im Lande traditionell nicht so sehr übliche Weise, von der er annahm, sie sei bei ‹i›Suliäns‹/i› Mode, bei mir bedankte, bevor er sich seiner glücklichen Frau widmete. Und dem Baby. Er rief immer wieder: »Nan hai, Nan hai!«
   Ich griff mir Wu und drohte ihm scherzhaft: »Kampfversammlung müßte man mit Ihnen machen! Bis Sie zugeben, daß Sie die Sache gemeistert haben und ich nur der Handlanger war!«
   Er lächelte. Ging dann zu dem stolzen Vater und sagte etwas zu ihm. Als er zurückkam, erklärte er mir: »Ich habe ihm Ihre Anweisungen für die nächsten Stunden übermittelt!«
   Der Mann war unverbesserlich. Ich zischte. »Hochstapler!«
   Er bewegte die Schultern. »Wir Chinesen sind alle gute Schauspieler, wenn das Leben es erfordert. Muß man das nicht sein? Es tut mir nur so leid, weil Sie jetzt auch auf den Decksplanken schlafen müssen. Wir können die Frau da nicht gut ausquartieren ...«
   Er konnte so unwiderstehlich lächeln, daß ich ihm nicht einmal böse sein konnte. Wir wickelten uns in unsere Decken und legten uns hin. Bevor mich der Schlaf packte, murmelte Wu mir zu: »Gute Nacht, Herr Doktor!«
   Und ich gab zurück: »Gute Nacht, Herr Handlanger!«
   Wir fuhren bis Wuhan zusammen. In der großen ›Dreistädte-Stadt‹ ging er an Land. Wir verabschiedeten uns unweit des Hafens, in einem Teehaus, in dem wir auch frühstückten, denn es war Vormittag. Vorher hatten sich die frischgebackenen Eltern unter vielen Dankesbezeigungen von uns verabschiedet, von mir als Doktor und von Wu, dem Helfer!
   Mir war, als verlöre ich mit Wu einen meiner besten Freunde. Man muß nicht immer ein Leben lang befreundet gewesen sein, um so zu empfinden. »I glaub’, i hoab’s gschafft!« sagte er hoffnungsvoll, wieder in seinen Wiener Dialekt verfallend, und blinzelte mir über die Eßstäbchen hinweg zu. »Den Rest des Wegs werd’ i scho noch ohne Zores hinter mi bringa!«
   »Und mir graust davor, daß bis Tschungking noch ein weiteres Baby fällig wird! Was dann?«
   Er schüttelte den Kopf. Wirkte fröhlich, als er mich beruhigte. »Ah geh! I hoab mi umgeschaut - da gibt’s koa Hochschwangere mehr!«
   »Und wenn im nächsten Hafen eine zusteigt?«
   »Machen’s koan Schmäh!« riet er mir, »die Götter san mit die Gerechten! Yi-lu ping an!«
   Das letzte Farewell. Ich war traurig, daß Wu Hai-tse ebenso plötzlich wie er in mein Leben getreten war, wieder daraus verschwand. Um in irgendeinem Bergnest den Wahnsinn der gerade laufenden politischen Kampagne zu überstehen. Und dann?
   Ich stand am Abend, als das Schiff wieder ablegte, an der Reling, in der Nähe meiner jetzt wieder für mich verfügbaren Kabine, und sah die Lichter Wuhans in der Ferne verglimmen.
   Ein unvergeßlicher Weggefährte für kurze Zeit war auf dem Weg in das, was er für Sicherheit hielt.
   Ein Baby, auf dem Jangtse geboren, dem längsten Strom Asiens, des zauberhaften, rauhen, sanften, wilden, unvergeßlichen Erdteils, trat seinen Weg ins Leben an.
   Und ein Deutscher, des Schreibens und Lesens kundig, aber nicht mit den Geheimnissen der Medizin vertraut, guckte in den Himml, den endlosen, unermeßlich scheinenden, der doch der gleiche war wie zu Hause. Fuhr weiter auf dem Schiff, bis Tschungking. Mindestens bis dorthin würde man ihn für einen Gelehrten halten, Wunderarzt und Geburtshelfer von internationalem Format.
   Viel später wurde mir bewußt: Ich habe nie im Leben mehr so intensiv und verängstigt zugleich nach schwangeren Frauen Ausschau gehalten wie damals, auf dem Jangtse, zwischen Wuhan und Tschungking ...!